Österreichs Handballer am Feiern. Noch kennt man sie bei der EM nicht anders.
APA/EVA MANHART

Österreichs Handball-Nationalteam schwebt auf der Erfolgswelle durch die Europameisterschaft. Das ungeschlagene ÖHB-Team darf nach dem Erfolg über Ungarn zum Start der Hauptrunde sogar mit dem Halbfinale spekulieren.

Als nächste Hürde baut sich Deutschland auf. Am Samstag (20.30 Uhr / live ORF 1) steht ein absoluter Höhepunkt an, wenn es vor 20.000 Fans in der Lanxess-Arena in Köln gegen die Gastgeber geht.

Zuvor sprach DER STANDARD noch mit Roland Marouschek. Der ehemalige Nationaltrainer und Sportdirektor von Westwien führte Österreich 2018 in Katar mit der Maroltingergasse zum WM-Titel der Schüler. Das Endspiel wurde 21:18 gegen Deutschland gewonnen. Mit von der Partie waren damals die heutigen Teamhelden Constantin Möstl und Lukas Hutecek.

STANDARD: 2018 haben Sie Österreich bei der Schüler-WM gegen Deutschland zum Weltmeister gemacht. Wie sind die Deutschen am Samstag zu schlagen?

Marouschek: Ein Tor mehr schießen. Es war mir in der Jugendarbeit immer wichtig, die Komplexe rauszukriegen. Dass die Burschen das Gefühl verinnerlichen, an einem guten Tag jeden schlagen zu können. Das haben wir damals geschafft. Sieben Stockwerke drunter, aber trotzdem. Es war eine vergleichbare Ausgangsposition.

STANDARD: Also wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, Deutschland zu schlagen?

Marouschek: Vielleicht fünf Prozent? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ist aber auch egal. Zahlen sind nur Blabla. Ein Sieg ist unwahrscheinlich. Aber wenn du Realist bist, dann geh nicht in den Spitzensport. Dann mach einfach was anderes. Ist auch okay. Wenn es perfekt rennt, haben wir gegen die Deutschen eine Chance. Dieses Gefühl hatten wir jahrzehntelang nicht.

STANDARD: Was hat sich verändert?

Marouschek: Früher hätte man gesagt, wir können vielleicht ein gutes Resultat machen oder ein Spiel gewinnen, in dem es um nichts mehr geht. Jetzt bestehen wir gegen Spanien in einem Kampf auf Biegen und Brechen. In einer Partie, die für Spanien existenziell ist. Das ist eine neue Dimension.

Roland Marouschek: "Es ist ein Irrsinn."
Foto ÖHB

STANDARD: In den Medien ist von einer Handball-Sensation die Rede. Zu Recht? Oder ist das nur eine der Euphorie geschuldete Übertreibung?

Marouschek: Wer sagt, er hat das in dieser Form erwartet, der hat, Entschuldigung, einen Vogel. Das ist so außergewöhnlich, was diese Burschen leisten, dass es jede Hoffnung um ein x-Faches übersteigt. Es ist ein Irrsinn. Bei der letzten EM sind wir ohne Punkt nach Hause gefahren.

STANDARD: Aber ein gewisser Optimismus war vor dem Turnier vorhanden.

Marouschek: Möstl, Bilyk, Wagner, Frimmel, Hutecek – es war uns bewusst, dass großartige Spieler da sind. Da gab es schon die Hoffnung, dass eine Qualität vorhanden ist, die wir so noch nicht oft hatten. Das Alter der Spieler, der Karriereverlauf, da passen Mischung und Konstellation. Eine derartige Eruption konnte man aber nicht erwarten.

STANDARD: Sie haben mit den meisten Spielern gearbeitet. Wie geht es Ihnen dieser Tage?

Marouschek: Ich bin völlig euphorisch. Ich sitze vor dem Fernseher, verbringe die halbe Zeit damit, den Spielern zu schreiben. Und ich frage nur: Seid ihr alle wahnsinnig geworden?

STANDARD: Dürfen wir von einer goldenen Generation reden?

Marouschek: Wir haben normalerweise wenig öffentliche Aufmerksamkeit, wir nehmen alles. Es ist jedenfalls eine außergewöhnliche Generation. Es sind hier Charaktere zusammen, die gemeinsam funktionieren. Der Josef Hickersberger hat einmal gesagt, er will nicht die Besten, sondern die Richtigen. Er wurde dafür geprügelt. Aber das war nicht blöd.

STANDARD: Woran lässt sich das festmachen?

Marouschek: Schauen Sie sich Hutecek an. Nach dem Spiel gegen Spanien bestand der Verdacht auf eine schwere Knieverletzung. Er war im Spital, hat ein MRT gemacht. Und am nächsten Tag spielt er gegen Ungarn fast durch. Bitte, was sind das für Charaktere? Das wurde erarbeitet, jetzt explodiert es.

Spielt eine fantastische Europameisterschaft: Lukas Hutecek.
IMAGO/Kessler-Sportfotografie

STANDARD: Wie entsteht die Chemie zwischen den Spielern?

Marouschek: Über die gemeinsame Geschichte. Wie lange kennen sich die Spieler? Wie viel haben sie schon miteinander erlebt? Die 94er-Generation mit Frimmel, Herburger und Bilyk hat mit der U18 und der U20 bei der EM um Platz fünf gespielt. Auch das war eine wahnsinnige Sensation. Nur hat es keinen interessiert.

STANDARD: Die Spiele entscheiden sich in letzter Sekunde. Wie schmal ist der Grat zwischen Sieg und Heimreise?

Marouschek: So ein Turnier entwickelt eine eigene Dynamik. Da sind unberechenbare Faktoren dabei. Verletzt sich ein Spieler oder nicht? Geht der letzte Wurf rein oder nicht? Dass es so gelaufen ist, wie es gelaufen ist, ist unglaublich und auch das Glück des Tüchtigen.

STANDARD: Wie viel Aufbauarbeit steckt hinter dem Erfolg?

Marouschek: Für einen solchen Erfolg in einer Mannschaftssportart müssen viele Rädchen ineinandergreifen. Wir haben in Wien ein Handball-Leistungsmodell, wo die Burschen am Vormittag trainieren und zu Mittag in der Schule sind. Es gibt viele Menschen, die meilenweit hinter dem Vorhang stehen. Genau die brauchst du.

STANDARD: Wie sehen die Möglichkeiten im Vergleich zur internationalen Konkurrenz aus?

Marouschek: Wir arbeiten mit bescheidensten Mitteln. Die Ungarn haben ganz andere finanzielle Möglichkeiten. Kroatien hat eine Riesengeschichte in diesem Sport. Spanien war immer das völlig Unerreichbare. Und dann schicken wir die nach Hause. Das ist, als würde die SV Ried Real Madrid schlagen.

STANDARD: Hypothetische Frage: Wenn die Erfolge vor einem Jahr eingetreten wären, gäbe es dann Meister Westwien noch in der obersten Handball-Liga?

Marouschek: Hätti, wari, täti. Ich weiß es einfach nicht. Wir haben es leider nicht geschafft, unsere sportliche Qualität wirtschaftlich umzusetzen. Dem Handball hätte es besser getan, wäre uns das nicht passiert. Sieben Spieler des Nationalteams wurden bei Westwien ausgebildet.

Das österreichische Team baut sich vor den Gegnern auf.
IMAGO/Maximilian Koch

STANDARD: Haben Sie sich mehr Unterstützung erhofft?

Marouschek: Spitzensport braucht Unterstützung, die nicht nur dann kommt, wenn die Sonne scheint. Spitzensport braucht Unterstützung, damit die Sonne überhaupt scheinen kann. Im Erfolg muss man daran denken, dass die Arbeit zehn Jahre zuvor begonnen hat. Wir machen aus wenig viel. Aber aus nichts können wir nichts machen.

STANDARD: Was wird man von dieser EM mitnehmen?

Marouschek: Wir haben in diesem Turnier verschoben, was möglich ist. Das, was möglich ist, kann man jetzt anders denken als noch vor ein paar Tagen. Das werde ich in Zukunft jeden Tag jedem Nachwuchsspieler in der Halle sagen. Es ist möglich. (Philip Bauer, 19.1.2024)

Die nächsten Spiele:

20.1.: Frankreich - Island (15.30), Ungarn - Kroatien (18.00), Deutschland - Österreich (20.30)

22.1.: Kroatien - Island (15.30), Frankreich - Österreich (18.00), Deutschland - Ungarn (20.30)

24.1.: Österreich - Island (15.30), Frankreich - Ungarn (18.00), Deutschland - Kroatien (20.30)