Demonstranten bei Protest für Abtreibungen
Eine Demonstration für die Legalisierung von Abtreibungen in Warschau im Jänner 2024.
IMAGO/Aleksander Kalka

Im Sommer 2023 gingen tausende Polinnen und Polen auf die Straße. "Wir wollen Ärzte, keine Missionare", skandierten die Demonstrantinnen und Demonstranten in Warschau. Kurz zuvor war eine 33-jährige Frau an einer Blutvergiftung gestorben, nachdem ihr eine Abtreibung verweigert worden war. Sie war nicht die einzige Polin, die nach der Verschärfung des Abtreibungsgesetzes im Jahr 2020 starb. Donald Tusk, der neue Ministerpräsident Polens, will das nun ändern. Er präsentierte am Mittwoch einen neuen Gesetzesentwurf, der Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche legalisieren und den Zugang zur "Pille danach" erleichtern soll. Allerdings ist längst nicht klar, ob Polens nationalkonservativer Präsident Andrzej Duda der Reform zustimmt. DER STANDARD beantwortet die wichtigsten Fragen.

Frage: Warum ist der neue Gesetzesentwurf so wichtig?

Antwort: Polens Abtreibungsgesetz gehört schon lange zu den striktesten weltweit. Vor vier Jahren wurde das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche erneut stark verschärft. Abtreibungen gelten seither in Polen als weitgehend verboten. Nur bei Vergewaltigung, Inzest und wenn das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft gefährdet ist, sind Abbrüche erlaubt. Das geht vor allem auf die rechtsnationalistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zurück, die von 2015 bis Dezember 2023 an der Macht war und eine konservativ-katholische Familienpolitik vertrat.

Sie setzte 2020 sowohl eine Rezeptpflicht für die "Pille danach" als auch ein Verbot von Abtreibungen wegen Fehlbildungen des Fötus durch. Bis dahin war das der mit Abstand häufigste Grund für einen Schwangerschaftsabbruch in Polen. Eine Protestwelle im gesamten Land war die Folge, zehntausende Polinnen und Polen gingen auf die Straße. Wie gefährlich die Verweigerung von Schwangerschaftsabbrüchen ist, zeigen mehrere Todesfälle von Schwangeren in Polen, die das striktere Gesetz nach sich zog. Der neue Ministerpräsident Donald Tusk will mit dem am Mittwoch vorgestellten Gesetzesentwurf Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlauben und den Zugang zur Pille danach erleichtern. Das wäre für Polen ein historischer Schritt.

Frage: Wie streng hat Polen das Abtreibungsverbot bisher durchgesetzt?

Antwort: Sehr streng. Und das Land machte es Frauen sogar unter rechtmäßigen Umständen schwer, eine Abtreibung durchzuführen. Im Jänner 2023 wurde etwa der Fall eines 14-jährigen Mädchens mit Behinderung bekannt, das von seinem Onkel vergewaltigt und daraufhin schwanger geworden war. Eigentlich ein legaler Grund für eine Abtreibung. Trotzdem verweigerten Ärzte in mehreren Krankenhäusern unter Berufung auf eine Gewissensklausel den Schwangerschaftsabbruch. Erst als sich eine Frauenrechtsgruppe für die Jugendliche einsetzte, konnte sie abtreiben.

Einer jungen Polin wurde nach einer Trisomie-Diagnose des Fötus der Schwangerschaftsabbruch verweigert. Dafür wurde Polen von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu einer Entschädigungszahlung verurteilt. Auch gegen das Umfeld von betroffenen Frauen ging Polen rechtlich vor. Mit bis zu drei Jahren Haft mussten Personen rechnen, die sich an einem Schwangerschaftsabbruch beteiligten. Im Frühling 2023 wurde eine Aktivistin wegen Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch verurteilt, im Herbst ein Gynäkologe. Die Regierung setzte 2022 außerdem ein Informationssystem durch, das – ohne rechtliche Folgen – Daten über vorhandene Schwangerschaften sammelte. Kritikerinnen und Kritiker bezeichneten das Register als Kontrollinstrument der Regierung.

Frage: Gibt es andere Möglichkeiten für ungewollt Schwangere in Polen?

Antwort: Viele Frauen ließen wegen der strengen Gesetzgebung Abtreibungen im Ausland durchführen. Frauenrechtsorganisationen geben an, dass jährlich weniger als 2.000 Schwangerschaftsabbrüche legal durchgeführt wurden – dafür erfolgten etwa 200.000 weitere illegal oder in anderen Ländern. Aber auch das wollte die polnische Regierung erschweren. Die polnische Botschaft forderte etwa Tschechien auf, keine Abtreibungen für Polinnen durchzuführen. Besonders schwierig ist die Situation auch für zahlreiche Ukrainerinnen, die im Krieg vergewaltigt wurden und nach Polen geflüchtet sind. Sie mussten eine Vergewaltigung nachweisen können, um in Polen abzutreiben.

Eine weitere Möglichkeit für ungewollt Schwangere ist, die Abtreibung selbst durchzuführen und Tabletten dafür im Internet zu bestellen. Das ist ungefähr bis zur elften Schwangerschaftswoche möglich. Die Geschichte einer polnischen Aktivistin zeigt, dass auch dieses Vorgehen nicht risikofrei ist. Sie vertraute sich einer Psychologin an, die daraufhin die Polizei rief. Diese führte bei der Polin eine Hausdurchsuchung durch. Illegale Abtreibungen sind in restriktiven Ländern für ungewollt Schwangere immer mit hohen – auch gesundheitlichen – Risiken verbunden.

Frage: Ist das neue Gesetz schon fix?

Antwort: Nein – und wann über die Entwürfe abgestimmt wird, ist auch noch nicht sicher. Außerdem steht noch eine große Hürde bevor: Polens konservativer Präsident Andrzej Duda muss den Reformen in letzter Instanz zustimmen. Ein Veto könnte nur mit einer 3/5-Mehrheit überstimmt werden, die die Regierung von Tusk nicht hat. Duda gilt als Abtreibungsgegner und steht der PiS-Partei nahe. Das führte schon bisher zu Konflikten mit Tusk. Im Parlament werden deshalb hitzige Debatten über das neue Abtreibungsgesetz erwartet. Sollte Duda die Reform verhindern, hat Tusk angekündigt, andere Maßnahmen zur Erleichterung von Abtreibungen durchzusetzen.

Donald Tusk, ehemaliger Präsident des Europäischen Rates, ist seit Dezember Ministerpräsident in Polen. Seine Gruppierung, die liberalkonservative und proeuropäische Bürgerkoalition (KO), regiert gemeinsam mit der konservativen Partei Dritter Weg und dem Linksbündnis Lewica. Schon während des Wahlkampfs hatte Tusk versprochen, mehrere Gesetze der PiS-Regierung rückgängig zu machen – darunter auch die strikte Abtreibungsregelung.

Frage: Wie sieht es in anderen Ländern Europas aus?

Antwort: Nur Malta hat noch strengere Abtreibungsgesetze als Polen. Es ist der einzige EU-Mitgliedsstaat, der Abtreibungen immer noch ausnahmslos verbietet. Die meisten anderen Länder in Europa haben eine sogenannte Fristenlösung – so auch Österreich. Das heißt, Abtreibungen sind größtenteils im ersten Trimester, also den ersten zwölf Schwangerschaftswochen, erlaubt. Für spätere Abbrüche müssen spezielle Bestimmungen vorliegen. Dazu zählen etwa eine Gefahr für das Leben der Frau, Fehlbildungen beim Fötus oder wenn eine Vergewaltigung zur Schwangerschaft führt.

Der allgemeine Trend in Europa geht in Richtung eines niederschwelligen Zugangs zu Abtreibungen. Zuletzt wurden etwa in Spanien die diesbezüglichen Regelungen gelockert. Als historisch galt die Reform des Gesetzes zu Schwangerschaftsabbrüchen in Irland. Bis 2018 gehörte es zu den Ländern mit einem der strengsten Abtreibungsgesetze Europas. Besonders liberal sind die Abtreibungsgesetze in den Niederlanden und in Großbritannien mit einer Fristenregelung von 22 bis 24 Wochen. (Helene Dallinger, 25.1.2024)