Manès Sperber
Ein unbestechlich-selbstkritischer Schriftsteller und Zeitzeuge: Manès Sperber.
Austrian Archives / brandstaette

Einmal nur, im galizischen Schtetl Zablotow, wo er am 12. Dezember 1905 zur Welt gekommen war und wo er zu den strenggläubigen "Wasserträgern Gottes" gehörte, hat Manès Sperber die Welt als ein Ganzes gesehen. Dann war der Spiegel aufgesplittert und zeigte nur noch Stückwerk. 1916 floh er mit den Eltern nach Wien, wurde Zionist und Schüler des Individualpsychologen Alfred Adler, mit dem er sich später zerstritt, als er den Marxismus zu seiner Weltanschauung machte.

Das freie Gewissen

Ab 1927 praktizierte er in Berlin und nahm ungläubig staunend die "selbstgewählte Verblendung" der Linken wahr, die am Ende Hitler den Weg ebnen sollte. 1937, mit Stalins Säuberungen, war für ihn die kommunistische Heilslehre endgültig korrumpiert. Er traute ab sofort nur noch einer Instanz: dem freien Gewissen des mündigen Menschen. Zur Analyse der Tyrannis hieß 1939 das Buch, das Sperbers Ruhm als Essayist begründete.

Das eigentliche Vermächtnis des unbestechlich-selbstkritischen, bis zuletzt lernfähigen Zeitzeugen, der nach einem Zwischenspiel als Fremdenlegionär den Zweiten Weltkrieg in der Schweiz überlebt hatte und dann bis zu seinem Tod am 5. Februar 1984 in Paris lebte, sind aber nicht die theoretischen Arbeiten, sondern zwei epische Großwerke, an denen er 27 Jahre schrieb: die fast ganz im Schweizer Exil entstandene Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean (1950–1961), die aus der Optik seines Alter Ego Dojno Faber romanhaft Aufstieg und Fall des Kommunismus beschreibt, mit zahllosen Figuren aber zugleich "eines der ganz großen Bücher des jüdischen Volkes" (so André Malraux) ist. Und die dreibändige Autobiografie All das Vergangene (1974–1977), in der er die gleiche Epoche noch einmal, aber nun aus der unverstellten Ich-Perspektive heraus, gestaltet hat und die nicht nur dem "ermordeten Schtetl" seiner russischen Kinderheimat ein Denkmal setzt, sondern auch den tragischen "Irrweg Kommunismus" auf sehr persönliche Weise nachvollziehbar macht.

Buch, Sonderzahl Verlag
Manès Sperber, "Wie eine Träne im Ozean". € 50,– / ca. 1000 Seiten. Sonderzahl, Wien 2024. Band drei erscheint ebenfalls im April und versammelt unter dem Titel "Zur Analyse der Tyrannis. Texte und Essays" die wichtigsten Schriften zur Kulturtheorie und Gesellschaftsanalyse Manès Sperbers. Zusammengestellt und betreut wurde der Band von Wolfgang Müller-Funk.
Verlag

Neuer Zugang zum Werk

Nach dem Untergang des Europa-Verlags waren Sperbers Werke viele Jahre lang nicht mehr im Handel greifbar, und es kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, dass der Wiener Sonderzahl-Verlag dieses Frühjahr eine dreibändige Sperber-Werkausgabe herausbringt, in welcher unter anderem All das Vergangene, Wie eine Träne im Ozean und die Essays Zur Kritik der Tyrannis neu aufgelegt werden. Womit natürlich auch die Frage aktuell wird, was uns Sperber, der sich als "Ostjude und trotzdem als ein der deutschen Kultur in schmerzlicher Untrennbarkeit verbundener Schriftsteller" bezeichnet hat, in einem Zeitalter, das mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 begann und mit dem Krieg in der Ukraine und den aktuellen, erneut das Judentum in schrecklicher Weise herausfordernden Ereignissen in Israel und Palästina weitergeht, noch oder wieder zu sagen hat.

Für alle, die Sperbers Werk als für das politische Denken des 20. Jahrhunderts grundlegend erachten, bleibt die Dankesrede für die Zuerkennung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels des Jahres 1983, die der in Paris durch seine Krankheit Festgehaltene nicht mehr selber vorgetragen hat, sondern durch Alfred Grosser vorlesen ließ, sein nach wie vor gültiges und gerade heute wieder hochaktuelles eigentliches Vermächtnis. Sperber geht von dem Moment aus, als er 1943 in Zürich aus dem Munde eines Augenzeugen erfuhr, was in Treblinka geschehen war. "Mir wurde es gewiss, dass Deutschland mir niemals mehr sein konnte, was es für mich bis dahin, bis zu meinem 37. Lebensjahr, gewesen war", hieß seine Erkenntnis, und seine Reaktion war dennoch weder Hass noch Ressentiment, sondern "eine Trauer, so grenzenlos, dass das Leben einer Generation nicht ausreicht, sie auszuschöpfen. Ja, in meinem tiefsten Innern glaube ich, dass es während zwei oder drei Generationen für Juden meiner Art unwürdig bleiben wird, sich mit den Deutschen zu identifizieren." Dies vorausgesetzt, wandte sich Sperber in seiner Friedenspreisrede nicht dem Frieden, sondern dem Krieg zu, erläuterte, wie er 1916 in Wien als Elfjähriger im Zeichen des "Nie wieder Krieg" zum leidenschaftlichen Pazifisten geworden war, wie ihn im Laufe seines Lebens aber die Frage immer mehr umtrieb, warum die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges nicht verhindern konnten, dass 20 Jahre nach dem Ersten ein Zweiter Weltkrieg folgte. Und dass es offenbar Situationen gibt, in denen nicht Pazifismus, sondern Bereitschaft zum Krieg gefordert ist.

Buch, Sonderzahl-Verlag
Manès Sperber, "Zur Analyse der Tyrannis". € 45,– / ca. 700 Seiten. Sonderzahl, Wien 2024
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Supermacht Europa

Sperber hatte den Faschismus und den Kommunismus erlebt, und was er daraus gelernt hatte, war, dass "jedes totalitäre Regime sich gefährdet glaubt, solange es nicht seine grenzenlose Macht über die unmittelbaren und mittelbaren Nachbarn und eines Tages über den ganzen Planeten ausbreiten kann". Und dass, Stichdatum 1983, "das alte Europa den gewaltigen Kontinent mit einem totalitären Imperium teile, dessen Herrscher ihre Diktatur so lange für gefährdet halten, solange sie sich nicht bis zu den Ufern des Atlantischen Ozeans ausbreitet". Was in die Erkenntnis mündet: "Wer glaubt und glauben machen will, dass ein waffenloses, neutrales, kapitulierendes Europa für alle Zukunft des Friedens sicher sein kann, der irrt sich und führt andere in die Irre." Und ganz konkret, auf eine für den langjährigen überzeugten Pazifisten Sperber absolut erstaunliche Weise, geht es dann weiter mit einer kühnen These: "Wie auch immer die Beziehungen zwischen Amerika und Russland sich gestalten mögen, Europa wird sich nicht dank masochistischer Wehrlosigkeit, sondern nur dann aus deren Konflikten heraushalten können, wenn es selbst eine Supermacht geworden sein wird, so abschreckend wie jene Riesenstaaten. Das ist unsäglich traurig, jedoch unvermeidlich, weil diese Welt noch während mehrerer Jahrzehnte der Gefahr und der Lockung des Selbstmordes ausgesetzt bleiben wird. Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren."

Buch, Sonderzahl-Verlag
Manès Sperber, "All das Vergan­gene". € 45,– / 629 Seiten. Sonderzahl, Wien 2023. Der zweite Band der "Ausgewählten Werke" erscheint im April und enthält die im Schweizer Exil entstandene Romantrilogie "Wie eine Träne im Ozean" mit "Der verbrannte Dornbusch", "Tiefer als der Abgrund" und "Die verlorene Bucht" – kommentiert und kontex­tu­alisiert von Rudolf Isler.
Verlag

Wie eindeutig Sperber seine Erkenntnisse als Vermächtnis verstanden haben wollte, belegen die abschließenden Zeilen, die all das mit seinen eigenen Erfahrungen in Beziehung setzen: "Dies ist nicht die Hoffnung eines Gläubigen oder eines utopischen Ideologen, sondern die Zuversicht eines post-purgatorischen Optimisten, der, wie so viele Europäer, durch das Fegefeuer gegangen ist und – deshalb oder trotzdem – entschlossen bleibt, nichts von dem zu vergessen, was er während der langen Lehr- und Wanderjahre erfahren musste."

Allein schon diese Rede, die er kurz vor seinem Tod in Deutschland vorlesen ließ, lässt ahnen, wie viel Manès Sperber uns auch heute noch zu sagen hat und dass es an der Zeit ist, seinem neu zugänglichen Werk die Aufmerksamkeit zu schenken, die es verdient. (Charles Linsmayer, 27.1.2024)