Gauß in seinem Arbeitszimmer, blickt aus Fenster
Karl-Markus Gauß, der schon 2018 sehr nachdenklich aus seinem Fenster geblickt hat.
Kurt Kaindl

Als die Proteste im Iran 1978 zur Massenbewegung wurden, beschloss der Philosoph Michel Foucault, von Paris nach Teheran zu fliegen. Er wollte begreifen, welche Kraft die Aufständischen befähigte, das waffenstarrende Regime des Schahs Reza Pahlewi hinwegzufegen und die amerikanischen Imperialisten eines ihrer mächtigsten Vasallen zu berauben. In den Jahren zuvor hatte Foucault in einflussreichen Studien dargelegt, dass die europäische Aufklärung der bürgerlichen Disziplinierung den Weg bereitet, institutionell in Gefängnissen oder Kliniken ein wahres "Kerkersystem" erprobt und diesem schließlich die gesamte Gesellschaft unterworfen habe. Die iranische Revolution faszinierte ihn, gerade weil sie keine Revolution nach westlichem oder östlichem, bürgerlichem oder bolschewikischem Vorbild war, sondern etwas Neues in die Welt brachte. Er nannte es die "politische Spiritualität" und meinte im konkreten Falle damit die Einheit von antiimperialistischem Kampf und schiitischem Märtyrertum. Kurz, der Atheist, Kritiker des bürgerlichen Staates und Antikolonialist hatte den Islamismus entdeckt.

Foucault hat dieser neuen Form von Revolution begeisterte Artikel in der französischen Presse gewidmet und wurde vom Ayatollah Khomeini, der noch im Pariser Exil lebte, in Audienz empfangen. Er war in der Folge offenbar weder willens noch fähig, auf den sich bildenden Gottesstaat sein eigenes Instrumentarium der Kritik anzulegen, das er aus der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft gewonnen und zu deren Verwerfung angewandt hatte. Kein Wort hat er später darüber verloren, dass die Islamisten die Revolution kaperten, mit Blutgerichten jedwede Opposition verfolgten, über die Frauen eine patriarchale Zwangsherrschaft verfügten, den Antisemitismus zur Staatsdoktrin erklärten.

Was ist es, das viele sich selbst so deklarierende "Antiimperialisten" mit reaktionären Despotien sympathisieren lässt?

Richtig wütend wurde er nur, als ihn feministische Iranerinnen im französischen Exil aufforderten, seine Augen doch nicht vor der Entrechtung der Frauen zu verschließen. Da hat er sie wissen lassen, dass sie mit ihrer Kritik nichts anderes taten, als westliche Vorurteile gegen den Islam zu schüren, also nicht verstanden hätten, was die historische Stunde verlangte: die eigenen Belange hintanzustellen gegenüber der einzigarten Chance, die Erde endlich von dem verdammten Kapitalismus mitsamt seiner europäischen Erbschaft zu befreien.

Bis heute hat bei manchen linken Intellektuellen im Westen niemand einen so schweren Stand wie die Oppositionellen der islamischen Länder, die die Menschenrechte nicht für Lug und Trug aus europäischem Ungeist halten, sondern auf deren universeller Gültigkeit bestehen und die religiöse Despotie anprangern. Notorisch werden sie als Kollaborateure des Imperialismus verleumdet, die der Islamophobie unentwegt neuen Zündstoff zuführen würden.

Man halte sich vor Augen: Angehörige der Kolonialmächte von gestern, die es heute antikolonialistisch geben, klären Bewohner der einstigen Kolonien ohne jeden Genierer und mit einem ungebrochen fortwirkenden Dünkel der Überlegenheit darüber auf, wie sie sich in der globalen Dekolonialisierung zu verhalten haben!

Beständige Suche

Was ist es, das viele sich selbst so deklarierende "Antiimperialisten" reihum mit reaktionären Despotien sympathisieren lässt? Ich meine, es ist ihre beständige Suche nach etwas, das sie in ihren Ländern des Wohlstands nicht mehr zu finden wissen: jene revolutionäre Klasse, Schicht, Gruppe, die das Zeug hätte, mit der eigenen Emanzipation zugleich die Menschheit aus Unterdrückung und Entfremdung zu befreien.

In der marxistischen Sicht der Dinge war die internationale Arbeiterklasse zu diesem Werk berufen, aber diese Aufgabe traut ihr nach all den ökonomischen, sozialen, technologischen Entwicklungen, ihrer Fragmentierung als Klasse und der politisch betriebenen Entsolidarisierung kaum jemand mehr zu.

Geister des Westens

Seit sechzig Jahren suchen die revolutionswilligen Geister des Westens daher nach Ersatz. Einmal waren es die Befreiungsbewegungen Asiens oder Lateinamerikas, deren heroische Kämpfe – die unter ganz anderen Bedingungen begonnen und geführt wurden – zum Vorbild für alle Welt dienen sollten; dann wieder hätten es die Verfemten, Ausgestoßenen, Marginalisierten der hochkapitalistischen Länder selbst richten sollen, denen die Hoffnung aufgeladen wurde, mit ihrer Revolte die solidarische Gesellschaft von morgen vorwegzunehmen. Und zu Zeiten woker Campusradikalität werden ohnedies beliebige Gruppen von Opfern und von vermeintlich oder tatsächlich Benachteiligten zu Projektionsflächen revolutionärer Anliegen.

Selbst dass im Reich der Mullahs auf Homosexualität schon bald der Tod stand, hat Michel Foucault, der im bürgerlichen Zwangsstaat seine Homosexualität ausleben durfte, übrigens nicht dazu veranlasst, seiner Schwärmerei für die "politische Spiritualität" abzusagen. Seiner standhaften Weigerung, sich ideologisch an so etwas Banalem wie der Realität zu messen, eifern seither zahllose nach, die den wechselnden Moden pseudorevolutionärer Gesinnung folgen. Auch wenn manches bloße Attitüde bleibt, ist die Sache gleichwohl alles andere als harmlos, wie man an dem Jubel erkennen muss, den der Terrorangriff der Hamas hervorrief.

Wochen vor dem Massaker

Es mutet zwar lächerlich an, ist aber im doppelten Sinne eine ernste Sache, wenn manch queere Aktivisten – offenbar in selbstmörderischer Absicht – ihre Solidarität mit der Hamas bekunden. Man kann sich vorstellen, wie lange ein queerer Solidaritätstrupp im Reich der Scharia überleben würde; aber man muss sich auch vorstellen, welche Begeisterung weltweit die von der Hamas und dem Iran ausdrücklich propagierte Vernichtung Israels bei Abermillionen Sympathisanten der palästinensischen "Freiheitskämpfer" hervorrufen würde. Die prominentesten Fürsprecher der Hamas wie Yanis Varoufakis oder Judith Butler warteten mit ihren Rechtfertigungen der Mörderbande, die am 7. Oktober 1300 Menschen aus dem einzigen Grund massakrierte, dass sie Juden waren, immerhin so lange ab, bis Israel reagierte, wie die Hamas das wohl erwartet hatte: nämlich mit Gegenschlägen, denen seither entsetzlich viele Zivilisten in Gaza zum Opfer gefallen sind. So lange wollten andere nicht warten. Die in den sozialen Medien umtriebig prominente Österreicherin Nicole Schöndorfer etwa hat sich beeilt, auf Instagram schon am Tag nach dem Pogrom jene Terroristen als "Märtyrer" zu feiern, die beim Abschlachten von Juden selbst den Tod fanden. Man erinnere sich an den Atheisten Foucault, der sich Religionskritik an der islamistischen Bewegung verbat; warum soll es also nicht auch Frauen geben, die sich ausdrücklich als Feministinnen bezeichnen und doch die jungen Männer, die israelische Frauen vergewaltigen, verstümmeln, ermorden oder entführen und dem Mob als Trophäen präsentieren, als Märtyrer der gerechten Sache würdigen?

Ein sprachlicher Kollateralschaden der heutigen Misere ist, dass löbliche Dinge wie Antirassismus, Antikolonialismus, Antiimperialismus so gründlich von denen desavouiert werden, die sich auf sie berufen, dass man sich fragen muss, ob neue Begriffe vonnöten sein werden, um sprachlich noch sinnvoll die alte, die richtige Sache zu benennen, nämlich gegen Rassismus, Kolonialismus, Imperialismus einzustehen.

Graffito gegen Antisemitismus
Das, was da ein Graffiti auf einer Hauswand in Heidelberg im Jahr 2020 postuliert hat, wird derzeit von vielen nicht beherzigt.
Oliver Zimmermann / foto2press v

"Heiliger Hass"

Einige Wochen vor dem Massaker der Hamas wurde ich gefragt, womit der Antisemitismus am leichtesten angeheizt werden könne. Heute müsste ich antworten: indem man möglichst viele Juden massakriert. Nichts hat den Judenhass stärker befeuert als die schlimmste Attacke auf Juden seit der Shoa, und weil die Attacke gegen Juden geführt wurde, kann es sich bei den Vergewaltigern und Mördern nur um "Widerstandskämpfer" gegen die jüdische Fremdherrschaft in Palästina handeln, die aus "heiligem Hass" gegen die zionistischen Unterdrücker handeln. Der heilige Hass ist übrigens ein Motiv, das wörtlich aus Julius Streichers nazistischer Zeitschrift Der Stürmer in die antikoloniale Propaganda übergekommen ist. Es gibt eine Unwissenheit, die rundum schuldhaft ist. Dazu gehört, dass die sich selbst als links verstehenden Israel-Hasser sich schlichtweg weigern, die politische Grundlegung der Hamas zur Kenntnis zu nehmen.

Dabei hat diese nie einen Hehl daraus gemacht, dass es ihr nicht um nationale Gleichberechtigung, soziale Gerechtigkeit oder die sogenannte "Zweistaatenlösung" geht, sondern um die Vernichtung Israels, was zugleich die wichtigste Etappe im Kampf um den Endsieg zwischen Gläubigen und Ungläubigen darstellt. Ihre Gründungscharta von 1988 ist eine kompakte Sammlung antisemitischer Stereotypien und eine unverhohlene Absichtserklärung: dass "zwischen dem Fluss und dem Meer" dereinst ein islamischer Gottesstaat errichtet werde.

Wahlsieg

Als sich 2005 die israelische Armee aus Gaza zurückzog, hat die Hamas bei freien Wahlen gesiegt. Reichlich mit Geldern aus aller Welt versorgt, hätte sie jetzt die Gelegenheit gehabt, eine Selbstverwaltung zum Nutzen der Bewohner von Gaza aufzubauen. Doch das war nicht ihr Ziel, sie ging vielmehr flugs daran, ihre palästinensischen Gegner zu liquidieren und die Bevölkerung mit einer Serie fundamentalistischer Gesetze einzudecken. Sie hat alles getan, dass Gaza zum "größten Freiluftgefängnis der Welt" werde, und gleichzeitig verleugnet, dass sie selbst es errichtet hat.

1970 lebten 280.000 Menschen in Gaza, als Israel sich aus dem Gebiet zurückzog, waren es etwa 1,2 Millionen, keine zwanzig Jahre später sind es 2,2 Millionen: So sieht die demografische Entwicklung aus, wenn der zionistische Aggressor jahrzehntelang "Völkermord" betreibt.

45 Jahre nachdem Foucault vor der "politischen Spiritualität" intellektuell wie moralisch abgedankt hat, schließt die empfindsamste Jugend des Westens ihr Bündnis mit den brutalsten Terrorverbänden der "politischen Spiritualität". Manches ist neu an dem, was die Antizionisten zwischen Berkeley und Berlin vorzubringen haben – etwa die rigorose Verwerfung des aufklärerischen Erbes, das in westlicher Selbstverachtung als Waffe der weißen Suprematie denunziert wird; aber der Kern ihrer Anklage ist uralt.

Linke, die sich selbst vergessen

Jean Améry hat im Jahrzehnt vor seinem Freitod im Jahr 1978 wie gehetzt einen hellsichtigen Essay nach dem anderen publiziert, in denen er "die Linke", der er sich von je zugehörig fühlte, leidenschaftlich warnte, dass "der Antisemitismus im Begriff steht, ein integrierender Bestandteil" der sozialistischen Bewegung zu werden. 1969 spricht er von einer "Linken, die sich selbst vergisst" und in deren Antizionismus der Antisemitismus enthalten sei "wie das Gewitter in der Wolke". Mittels revolutionärer Phrasen werde aus dem ordinären alten der neue "ehrbare Antisemitismus" vermeintlich fortschrittlicher Leute.

Améry argumentiert nicht selbstzufrieden aus dem Gefühl moralischer Überlegenheit, sondern in der trostlosen Einsicht, dass seine "natürlichen Freunde", die aufbegehrenden Studenten, nicht hören wollen, was er zu sagen hat, sondern für eine bessere Welt von morgen einzustehen meinen, wenn sie auf Demonstrationen skandieren: "Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot." Er erklärt ihnen, warum er aus ihrem Slogan die Losung "Juda verrecke" heraushört, und sie nichts anderes behaupten, als dass die Juden vernichtet werden müssen, damit in die Welt Frieden und Freiheit einkehre.

Aus widerwärtig aktuellem Anlass hat Irene Heidelberger-Leonhard, Verfasserin der famosen Biografie Jean Amérys, jetzt für den Klett-Cotta-Verlag rasch eine Sammlung von Essays, Traktaten, Reden Amérys zusammengestellt, die den Titel Der neue Antisemitismus trägt. Es ist in der Tat erschreckend, dass diese Texte, die Améry vor fünfzig und mehr Jahren verfasst hat, anmuten, als wären sie gerade eben und für heute geschrieben worden. Damals, zwischen 1969 und 1978, wurden Amérys scharfsinnige Warnungen als Marotte eines Autors abgetan, der aus der Zeit gefallen war; heute erweisen sie ihre geradezu prophetische Kraft.

Die Gründungscharta der Hamas (1988) ist eine kompakte Sammlung antisemitischer Stereotypien.

Mit keinem Wort bestreitet Améry den Palästinensern das Recht auf Grund und Boden oder nationale Selbstentfaltung und Eigenstaatlichkeit. Völlig fremd ist ihm, wenn der moderne Staat Israel aus biblischen Legenden politische Ansprüche von heute ableitet. Benjamin Netanjahu, den Paten der extremistischen Siedlerbewegung und korrupten Feind der Demokratie, hätte er wohl noch wesentlich schärfer angeprangert als seinerzeit Menachem Begin. Schon nach dem Sechstagekrieg grübelte er über "die Grenzen der Solidarität" mit Israel, und erst recht die nicht endende Bombardierung des Gazastreifens hätte er gewiss verurteilt.

Nicht zu Unrecht wird heute manchmal beklagt, dass es in der politischen Debatte kaum mehr um Erkenntnis, sondern einzig um das fortwährende Bekenntnis zu der einen oder der anderen Seite gehe. Ich muss jedoch festhalten: Der Antisemitismus ist nicht durch jüdisches Fehlverhalten in die Welt gekommen, und er wird nicht durch jüdisches Wohlverhalten aus ihr verschwinden. Natürlich kann die Hamas ihr offen deklariertes Ziel, Israel auszulöschen, nicht erreichen; aber sie hat bereits am Tag ihres Massakers erreicht, dass Abermillionen es wünschen. Daher ist es notwendig, den allerorts angefeindeten Juden und Jüdinnen Schutz und Sicherheit zu bieten, durch persönliche Courage, gesellschaftliche Initiativen, staatliche Gesetze. Und sich, zumal wenn man sich politisch der Linken verbunden fühlt wie ich, zum Staate Israel und seinem Recht auf Selbstverteidigung zu bekennen. (Karl-Markus Gauß, 27.1.2024)