Ein junge Frau schminkt sich.
"Anständige" Weiblichkeit ist eine Mittelschichtsweiblichkeit, sie glänzt durch Zurückhaltung und Eleganz.
APA/AFP/SUJIT JAISWAL

"Du sieht gar nicht britisch aus!", ist im Tiktok-Video von Curry Fisher zu lesen. Dann greift die junge Frau zum Schminkpinsel und verteilt dicke Schichten Make-up in ihrem Gesicht. Unter dem Video prangt der Hashtag #chav – eine gängige, abwertende Bezeichnung in Großbritannien für Menschen aus unteren Klassen. Chavs, das sind junge, ungehobelte Menschen, die im Sozialbau leben und mit geschmackloser Kleidung auffallen – so das klassistische Stereotyp. Sich wie eine "Chav" zu schminken, entwickelte sich auf Tiktok zum regelrechten Trend. Userinnen schmieren sich Abdeckcreme auf die Lippen und umranden sie farbig, dazu kommen falsche Wimpern und betont schlechtes "Contouring": eine Schminktechnik, bei der verschiedene Farbtöne zum Einsatz kommen, um die Vorzüge des Gesichts zu betonen. In der "Chav"-Version sieht das freilich nicht geschmeidig, sondern plump aus. Die Nutzerinnen parodieren einen vermeintlichen Unterschichtsstil. Und das diene der Distinktion, sagt Susanne Becker, Ungleichheitssoziologin und Professorin für Sozialwissenschaften. "Die Botschaft lautet: Ich selbst bin ganz anders. Man macht sich lustig über den schlechten Geschmack."

Auch auf Reddit finden sich unzählige Einträge, in denen User:innen sich über das Aussehen von Reality-TV-Darstellerinnen amüsieren – aus Formaten wie "Teen Mom", die Klassismus zum Unterhaltsformat erklärten. Junge Frauen werden dort als grob und verantwortungslos vorgeführt, vermeintlich geschmacklose Frisuren inklusive.

Geschmack als Klassenmarker

In Sachen Schönheitsnormen spielt die soziale Klasse immer schon eine entscheidende Rolle. Wie der Soziologie Pierre Bourdieu in seiner berühmten Studie "Die feinen Unterschiede" herausarbeitete, ist Geschmack weder angeboren noch individuell, sondern maßgeblich vom sozialen Umfeld bestimmt. Was als geschmackvoll und was als niveaulos gilt, bestimmen jene Gruppen, die über die nötige symbolische Macht verfügen. "Anständige" Weiblichkeit ist eine Mittelschichtsweiblichkeit, sie drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern glänzt durch Zurückhaltung und Eleganz. Im Zentrum stehe dabei eine geforderte Natürlichkeit, sagt Soziologin Becker.

Ganz anders die Weiblichkeit der Arbeiterklasse, die abgewertet und häufig sexualisiert werde. Die Figur der "Chav", die das Oxford English Dictionary zum Wort des Jahres 2004 erklärte, symbolisiert alles Negative und Gefährliche, womit die Arbeiterklasse aufgeladen werde, schreibt die britische Soziologin Beverly Skeggs: laut, schmutzig, raumeinnehmend, schlussendlich gefährlich. Allein schon den Begriff zu verwenden, diene der Distinktion und damit auch dazu, Klassengrenzen aufrecht zu erhalten – selbst auf Tiktok.

Besonders kurios erscheint es, dass ausgerechnet Kim Kardashian ein Video zur Chav-Challenge beisteuerte. Kardashian selbst war es schließlich, die den "Contouring"-Trend prägte: Unzählige Frauen versuchten in den 10er-Jahren, den Glam-Look der prominenten Unternehmerin zu kopieren – jedoch ohne professionelle Stylist:innen im Hintergrund. "Ziemlich einfach, diese Frauen aus ihrem Elfenbeinturm heraus auszulachen", formuliert es Influencerin Alex Maher.

Authentizität der Straße

Working-Class-Style wird keineswegs bloß abgewertet. Die Modeindustrie bedient sich seit langem an der Ästhetik der Straße. So beeinflusste etwa die US-amerikanische, schwarze Hip-Hop-Kultur der 1970er- und 1980er-Jahre Modetrends ganz wesentlich. Die Authentizität der Großstadtghettos ließ sich plötzlich – mit dem nötigen Kapital – ganz bequem im Laden nebenan erwerben. Auch lange, bunt gestaltete Fingernägel aus Acryl haben ihren Ursprung in der Kultur des schwarzen Hip-Hops, weiß Soziologin Susanne Becker. Was lange Zeit als verpönt galt, ist plötzlich auch in der Mittelschicht schickes Accessoire. "Kunstvolle, handbemalte Nägel haben sich zum Trend entwickelt. Das heißt aber nicht, dass Frauen mit langen Acrylnägeln nicht weiterhin abgewertet werden. Ausschlaggebend bleibt immer, wer etwas trägt – und in welchen Räumen", sagt Becker.

Besonders deutlich wird das, wenn Designer sich nicht bloß vom Stil der Straße inspirieren lassen, sondern Arbeiter:innenkleidung oder Armut geradezu fetischisieren. So stand das Modehaus Balenciaga wiederholt in der Kritik, da es unter anderem abgetragen aussehende, absichtlich beschädigte Sneaker um rund 1.800 Dollar verkaufte. Vetements wiederum präsentierte 2015 ein T-Shirt mit dem DHL-Logo um 185 Pfund – in jenem Stil, wie es auch Mitarbeiter:innen des Paketdiensts tragen. In Deutschland sorgte Schauspieler Lars Eidinger für Aufsehen, der nicht nur eine teuer Designertasche im Look des Diskonters Aldi vermarktete, sondern damit auch noch vor dem Nachtlager obdachloser Menschen posierte.

How to look rich

Während die Upperclass sich an einem Armutsschick versucht, vermitteln unzählige User:innen auf Social Media, was es braucht, um wohlhabend auszusehen. Reiche Menschen würden niemals ein Shirt tragen, auf dem ein fettes Designer-Logo von Gucci oder Louis Vuitton prangt, lernt man da. Stattdessen sei Understatement angesagt: hochwertige Materialien in dezenten Farben, frische Bräune von der Côte d’Azur statt Solarium-Look.

Auch beim Upperclass-Look ist die vermeintliche Natürlichkeit Trumpf. Wenig verwunderlich also, dass sich Beige in den vergangenen Jahren als Trendfarbe auf Instagram und Co etablierte. Influencerinnen zeigen sich in hellen Leinenhosen vor beigen Sofas, in der tischhohen Keramikvase steckt ebenso beiges Pampasgras. "Natürlichkeit ist ganz zentral mit Schönheit und Ästhetik verbunden, das zeigt sich in allen soziologischen Studien", sagt Susanne Becker. Hinzu komme auch ein ökologischer Aspekt: der zur Schau gestellte Konsumverzicht. "Dabei spielt Klasse eine große Rolle. Es macht schließlich einen Unterschied, ob ich freiwillig auf Konsum verzichte oder aus ökonomischen Gründen dazu gezwungen bin", so Becker.

Doch auch hinter einem scheinbar minimalistischen Look steckt ein aufwendiges Regelwerk, demonstrieren Influencerinnen, die sich als "Clean Girls" inszenieren. Reine Haut und dezentes Make-up, zum Dutt gestyltes Haar und eleganter Goldschmuck zählen zur Grundausstattung des Clean Girls. Wer aus diesem Trend ausgeschlossen bleibt, verrät schon der Name: Als schmutzig und nicht "clean" gelten in der Regel Women of Color und Frauen aus der Arbeiter:innenklasse – Frauen, die übermäßig sexualisiert werden.

Die angebliche Natürlichkeit erfordert durchaus aufwendige Schönheitsarbeit, zeigen die Videoproduzentinnen auf Social Media. "Weiß der, wie viele Stunden ich gebraucht habe, um so auszusehen", amüsiert sich eine Tiktok-Userin über einen Mann, der ihr ein Kompliment dafür gemacht hatte, dass sie sich nicht schminken würde.

Jessica Vus "No Make-up"-Look, den sich auf Youtube über zwei Millionen Menschen angesehen haben, erfordert ganze 16 Schritte auf dem Weg zur "natürlichen Schönheit". Die Abgrenzung zum "Chav"-Look ist dabei zumindest garantiert. (Brigitte Theißl, 27.1.2024)