Karl Nehammer, Hände jubelnd nach oben, im Hintergrund ÖVP-Politikerinnen und ÖVP-Politiker.
ÖVP-Chef Karl Nehammer nach der Präsentation seines "Österreichplans" am Freitag in Wels.
APA/HELMUT FOHRINGER

Der Frühstart von ÖVP-Chef und Bundeskanzler Karl Nehammer in den Nationalratswahlkampf in Form seiner Rede zur Präsentation des türkisen "Österreichplans" fand am Freitagnachmittag zwar bei den rund 2.000 Funktionärinnen und Funktionäre in der Messehalle in Wels Anklang – die politischen Gegner inklusive des Noch-Koalitionspartners Grüne aber reagierten mit teils deftigen Worten auf Nehammers Vorgabe.

So sprach etwa SPÖ-Chef Andreas Babler von einer "Verarschung", wenn der Kanzler am Ende der Legislaturperiode erkläre, was er verbessern wolle. Die ÖVP wolle damit wohl vom eigenen Versagen ablenken, verwies Babler auf Teuerung, Lehrer- und Fachkräftemangel. Der Volkspartei attestierte er, nach der nächsten Wahl auch hinzunehmen, Juniorpartner in einer Koalition mit der FPÖ zu sein – er erblickte in Nehammers Ausführungen einen "Heiratsantrag" der ÖVP an die FPÖ. Darum wolle er, Babler, antreten, um eine solche Koalition zu verhindern, bedrohe doch die FPÖ die Grundpfeiler der Demokratie. Allerdings: Die Hand in Richtung ÖVP bleibe, obwohl bei der Rede demokratische Grundeinstellungen "massiv in Frage gestellt worden" seien, ausgestreckt, sagte der SPÖ–Vorsitzende. Hier müsse sich innerhalb der ÖVP zunächst etwas ändern.

Als Gast der Ö1-Sendung "Im Journal zu Gast" betonte Babler, dass es die SPÖ sei, die "in Schlagweite" zur FPÖ liege und er derjenige sei, der Blau-Schwarz und einen Kanzler Kickl verhindern könne. Eine rote "Reformkanzlerschaft" will Babler installieren, mit einer "positiveren Vision" für das Land, meine "bessere Politik für 98 Prozent der Bevölkerung". Das Wort "Verarschung" ersetzte er in diesem Radiointerview durch "Verhöhnung". Das sei es, wenn die ÖVP nach 37 Jahren in der Regierung jetzt plötzlich sage, was sie gerne noch machen würde. In der Asylpolitik etwa verwies Babler auf die Zeit von ÖVP-Politikerinnen und ÖVP-Politikern im Innenministerium - nur unterbrochen von einer "Pause" mit "Kickl als Zirkusdirektor". In seinem eigenen Wahlkampf will er eine "Graswurzelbewegung" aktivieren, also eine breit angelegte Basisbewegung, für die SPÖ schon jetzt "im zweistelligen Tausenderbereich" Menschen begeistern könne, erklärte der SPÖ-Chef. Es gehe um eine Richtungsentscheidung - ob dese aber bei einem gemeinsamen Termin mit der EU-Wahl im Juni vorgezogen stattfinden solle oder regulär im Herbst, wollte Babler nicht bewerten, nur so viel: "Als Bürgermeister ist es eine Challenge", sagte der Bürgermeister von Traiskirchen, in der Bevölkerung gebe es dafür "vielleicht Sympathie". Jedenfalls brauche man auch ein "europäisches Profil".

Grüne sehen "viel altes Denken"

Änderungsbedarf in der ÖVP sah auch der aktuelle, von Nehammer nicht direkt adressierte Regierungspartner, Grünen-Chef Werner Kogler, als er in der ZIB 1 "viel altes Denken einer rechtskonservativen Partei" konstatierte.

ZIB 1: Viel Kritik von der Opposition
Die Oppositionsparteien haben die Rede von ÖVP-Chef Karl Nehammer zu seinem "Österreich-Plan" mit Skepsis verfolgt - SPÖ, FPÖ und NEOS lassen kein gutes Haar daran.
ORF

Ähnlich negativ war die Einschätzung der Neos. "Was soll man zu einer Zukunftsrede von jemandem sagen, der in der Gegenwart versagt?", warf deren Generalsekretär Douglas Hoyos dem Kanzler mangelnde Glaubwürdigkeit vor. So sitze die ÖVP seit fast vier Jahrzehnten im Wirtschaftsministerium und wünsche sich jetzt einen "Regimewechsel" in der Wirtschaftspolitik. Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger hatte bereits vor der Rede ein "Ankuscheln an die FPÖ" erwartet und einmal mehr rasche Neuwahlen gefordert, die ÖVP sei planlos, müde und korrupt.

Der Spitzenkandidat der KPÖ bei der Nationalratswahl, Tobias Schweiger, sah durch Nehammers Rede bestätigt, "dass die ÖVP keinerlei Interesse an leistbarem Wohnen hat."

Die ungenannte blaue Sonne

Die Partei, die, je nach oppositioneller Lesart, "angekuschelt" wurde oder einen "Heiratsantrag" erhalten hat, stand tatsächlich im Mittelpunkt des ÖVP-Events in Wels. Nehammers "Vorbands", also die Rednerinnen und Redner aus der Partei, mühten sich alle an der FPÖ und deren Parteichef Herbert Kickl ab – Nehammer selbst nahm Kickls Namen zwar nicht in den Mund, seine Rede mündete aber darin, dass er quasi ein Kanzlerduell zwischen sich und Kickl ausrief: "Er oder ich."

Der FPÖ kam das durchaus zupass. Erkannte sie doch inhaltlich blaue Themen im türkisen Österreichplan. Generalsekretär Christian Hafenecker sprach denn auch von einer "Kopiermaschine", die FPÖ-Ideen vervielfältigt habe, und nannte Nehammers Auftritt ein "großes Bürgertäuschungsmanöver eines notorischen Krisen-Leugners, der als Bundeskanzler keine Zukunft mehr hat".

Auch der Politikberater Thomas Hofer machte im Ö1-"Morgenjournal" am Samstag das Kreisen um die FPÖ gegenwärtig als zentrale innenpolitische Dynamik aus. Kickl sei der "Hauptdarsteller" der ÖVP-Veranstaltung gewesen: "Da drehte sich alles um Herbert Kickl und die FPÖ." Das sei aber das "Problem mehrerer Parteien, dass sich im innenpolitischen Sonnensystem alles um die blaue Sonne dreht." Nehammer habe mit seiner Rede ein "Manöver Richtung Wählerströme" versucht, mit dem Ziel, "FPÖ-Inhalte zu umarmen". Zumal die ÖVP derzeit versuche, alles zu tun, "um ein ähnliches Manöver hinzukriegen wie damals, weiland Sebastian Kurz 2017 und 2019, der es ja geschafft hat, mit der Übernahme auch von FPÖ-Positionen tatsächlich Wahlen zu gewinnen."

Kritik aus dem Umweltbereich

Je nach Position und Perspektive bezog sich die Kritik unterschiedlicher Organisationen auf unterschiedliche Aspekte des "Österreichplans", den die ÖVP ja bereits im Vorfeld häppchenweise medial hinausgespielt hat. Greenpeace etwa kritisierte bereits im Vorfeld der Rede, dass der Plan "reine ÖVP-Klientelpolitik für Konzerne zulasten von Klima und Umwelt" sei. Für Umwelt- und Klimamaßnahmen gebe es ein klares "Nicht genügend", denn die ÖVP wolle den Naturschutz schwächen, Milliarden an Steuergeld in ineffiziente Technologien wie E-Fuels oder CO2-Speicherung investieren und friedlichen Protest kriminalisieren.

Die Umweltschutzorganisation WWF Österreich bewertete das Papier als "umweltpolitische Bankrotterklärung". Im Klimakapitel dominierten Allgemeinplätze und Nebelgranaten, der Natur- und Bodenschutz werde fast komplett ignoriert. "Das ist kein Plan, sondern eine inhaltliche Selbstaufgabe".

ÖGB-Bundesgeschäftsführerin Ingrid Reischl monierte ebenfalls fehlende Lösungsvorschläge zu den "drängendsten Problemen", etwa den hohen Preisen, insbesondere bei den Mieten, Nahrungsmitteln und der Energie. Auch kritisierte sie die angedachte Großelternkarenz, die eine institutionelle Kinderbetreuung nicht ersetzen könne.

Lob von Ärzte- und Wirtschaftskammer sowie IV

Einige gute Ansätze sah die Ärztekammer. So würden sich einige der skizzierten Maßnahmen mit den eigenen Forderungen decken, etwa beim Ausbau der Kassenstellen und bei den Plänen zur verbesserten Vorsorge. Die angedachte Berufspflicht für ausgebildete Ärztinnen und Ärzte sieht die Ärztekammer hingegen kritisch, solche Maßnahmen würden einen Wettbewerbsnachteil nach sich ziehen.

Die Wirtschaftskammer sieht Österreich 2024 vor großen Herausforderungen stehen. Die Notwendigkeit von Maßnahmen für einen "erfolgreichen Re-Start" am heimischen Wirtschaftsstandort seien in Nehammers Rede angesprochen worden, sagte Generalsekretär Karlheinz Kopf. Er betonte, dass es etwa eine Senkung der Lohnnebenkosten brauche, die dem Kanzler auch vorschwebt.

Die Industriellenvereinigung (IV) reagierte großteils positiv, habe der Kanzler doch etwas angesprochen, das für die Industrie von zentraler Bedeutung sei– einen starken, von sozialer Marktwirtschaft, Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung getragenen Standort. Auch sie sieht die Lohnnebenkostensenkung als dringend notwendig und begrüßt Anreize wie den vorgeschlagenen "Vollzeit-Bonus".

Fiskalratspräsident fragt nach Finanzierung

Im Ö1-Mittagsjournal am Samstag wurde der Präsident des Fiskalrats, Christoph Badelt, um eine wirtschaftspolitische Einschätzung der Rede des Bundeskanzlers und ÖVP-Chefs gebeten. Angesichts der Ausgangssituation, die Österreich habe, nämlich ein Budgetdefizit von 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), und dem von der Regierung vorgelegten Haushaltsplan bis zum Jahr 2027, der bei den 2,7 Prozent bleibe, "also weit in die nächste Legislaturperiode hinein - und mir hat schon das Sorge gemacht", sagte Badelt: "Und ich frage mich: Wenn man da jetzt noch Einnahmen senkt und zusätzliche Ausgaben vorsieht, wie das ja auch im Programm drinnen ist – wie soll sich das ausgehen?"

Gefragt nach Einsparungspotenzial, sagte Badelt: "Wo man Einsparungspotenzial haben will, kann man nur politisch festlegen." Aber er wies darauf hin, dass die ÖVP zum Beispiel das Arbeitslosengeld, also die Ersatzraten für das Einkommen, von derzeit 55 Prozent auf unter 50 Prozent senken wolle, obwohl schon die jetzigen 55 Prozent im internationalen Vergleich "schon niedrig sind". Aber um diese Pläne exakt berechnen zu können, müsste man genauere Eckdaten kennen und wissen, was mit Notstands- und Sozialhilfe passiere. Aber schon dieser Zusammenhang sei so, dass es nicht wahrscheinlich sei, "dass sich das ausgeht, unabhängig davon, ob man das jetzt sozialpolitisch will oder nicht".

Zum Thema Senkung der Lohnnebenkosten – von Arbeitgebervertretern gefordert, von der Gewerkschaft massiv abgelehnt als Frontalangriff auf den Sozialstaat" – sagte Badelt: "Ich würde glauben, dass wir auch tatsächlich eine Senkung der Lohnnebenkosten brauchen, aber dass es im wesentlichen bei uns darum geht, die Abgabenstruktur zu verändern. Der Faktor Arbeit ist zu stark belastet. Und auch hier stellt sich die Frage der Gegenfinanzierung." Er teile die Sorge der Gewerkschaft nicht, dass, wenn man bei Sozialbeiträgen etwas kürze, das einem Abbau des Sozialsystems gleichkomme, "nur müsste man halt dann die entsprechenden Kompensationen im Budget vorsehen", egal, ob das bei der Pensions- oder Krankenversicherung angesiedelt sei: "Das könnte man schon machen."

Hat Nehammer aus Sicht des Fiskalratspräsidenten "die richten Themen" angesprochen? "Ich glaube, es ist legitim zu sagen, man will die mittleren, aber auch die höheren Einkommen entlasten. Das ist halt eine gesellschaftspolitische Position, die die ÖVP hat. Aber man muss trotzdem sagen, wie man den Staatshaushalt finanzieren und regeln will." Zu einer nachhaltigen Pensionsreform stehe zum Beispiel "eigentlich nicht viel drinnen. Da hätte ich mir mehr Mut gewünscht." Aber das müsse die ÖVP natürlich vor allem mit potenziellen Koalitionspartnern verhandeln, etwa eine Erhöhung des Pensionsantrittsalter: "Das muss ja auch sozial ausgewogen sein." (nim, APA, 27.1.2024)

Update: Um 12.55 Uhr wurden Babler-Aussagen aus dem Ö1-Mittagsjournal eingebaut, um 13.15 Uhr die von Fiskalratspräsident Badelt.