Ruinen als nostalgische Orte und ästhetisch ansprechende Schatten der Vergangenheit – dieses Bild ist für die Kulturwissenschaferin Karin Harrasser nicht mehr stimmig. "Andauernd wird wütend zerstört. Vor unseren Augen entstehen neue Ruinenlandschaften. Gesundheitssysteme werden ausgehöhlt, Institutionen infrage gestellt, von Schulen bis Universitäten", sagt die Direktorin des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien (IFK). Gemeinsam mit Mathias Fuchs (Leuphana-Universität Lüneburg) und Daniel Vella (L-Università ta' Malta) hat sie zuletzt eine Tagung zu Ruinen konzipiert. Für Harrasser ist eine Parallelität von materieller Zerstörung und langsameren systemischen Zerfallsprozessen in der Gesellschaft erkennbar.

Zerstörtes Haus in der Ukraine
Im Zuge des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine wurden unzählige Häuser zerstört, deren Wiederaufbau wohl Jahrzehnte dauern wird. Im Bild: die Ruinen eines historischen Gebäudes in Orichiw.
IMAGO/Andriy Andriyenko

"Unsere ganze modernistische Energie geht ins Neu-Bauen und in die Erneuerung von Gebäuden, von Infrastrukturen, von Verkehrswegen, von Verkehrsmitteln. Ich vermute, dass dieses Interesse am Ruinösen in dem Moment deshalb so groß ist, weil wir daran ganz schön Zweifel haben, und zwar zu Recht", sagt Harrasser. Ein "Zubetonieren von Landschaft" könne wohl kaum die Rettung bringen, meint sie. Weshalb gerade die jüngere Generation eher vom Gegentrend überzeugt sei, von Denaturierungen und dem Wiederzulassen von nichtmenschlichen ökologischen Prozessen: "Das schlägt sich auch in der Architektur oder in der Kunstdiskussion sehr nieder, wo es im Moment ein riesiges Interesse fürs Reparieren gibt."

Porträt Karin Harrasser
Die Kulturwissenschafterin Karin Harrasser hat zuletzt eine Tagung zu Ruinen organisiert.
IFK/Jan Dreer

Krieg, Pandemie und andere Katastrophen

Was passiert tatsächlich, wenn unsere Welt ruiniert wird? Dass der Leitgedanke zum Symposium "Alles bröckelt. Über das Leben in Ruinen und das Reparieren von Infrastrukturen" vor zwei Jahren entstand, scheint nicht weiter verwunderlich. Russland hatte seinen abscheulichen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet, während das Coronavirus und verheerende Naturkatastrophen um die Welt tobten. "Das Thema ist immer noch aktuell", stellt Mathias Fuchs fest.

Die Faszination für Ruinen schlägt sich besonders stark in virtuellen Welten nieder, wie er anmerkt. Fuchs beschäftigt sich seit langem mit Game-Studies und hat dabei das Phänomen beobachtet, wie Ruinenlandschaften in "S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl" oder anderen apokalyptisch angehauchten Computerspielen zelebriert und geschätzt werden. Für ihn stellt sich dabei auch die Frage, wie Jugendliche auf ein Zerbröseln der Infrastrukturen oder den generellen Krisenmodus der Welt reagieren. "Also resignieren die oder sagen sie: Macht kaputt, was euch kaputtmacht? Wie kann man mit so einer Situation überhaupt noch vernünftig umgehen?"

Zerstörte Häuser in Florida
Kriege und Naturkatastrophen hinterlassen zerstörte Landstriche, wie der Hurricane Idalia im August 2023 in Cedar Key in Florida.
IMAGO/Douglas R. Clifford

Klangruinen, Grunge und Audiophile

Prozesse der Zerstörung, des Zerfalls und der Ruinierung lassen sich auch an "Klangruinen" (Sonic Ruins) festmachen, wie der Kulturwissenschafter und Komponist Fuchs demonstriert. Inspiriert ist er dabei von Arbeiten des Audiokünstlers Chris Marclay, der Tonträger immer wieder einer bewussten Beschädigung aussetzte – etwa, indem er 1987 die Besucher von "The Clocktower" in New York über 850 Schallplatten trampeln ließ.

Davon ausgehend, stellt Fuchs zwei extreme Standpunkte gegenüber, mit dem Kreieren und der Wiedergabe von Musik umzugehen. "Es gibt auf der einen Seite das Lager, das ich als 'Grunge' bezeichnen würde: Die sagen, 'Okay, ein bisschen Noise drauf und ein Gitarrenverzerrer und Exciter (ein Effektgerät, Anm.) machen die Musik besser'. Und es gibt die Audiophilen, die sagen, ich muss jedes Staubkörnchen von der Schallplatte entfernen, damit die Musik perfekt und ohne irgendwelche ruinösen Aspekte ist."

Hier Jimi Hendrix, der beim Woodstock-Festival 1969 die amerikanische Hymne unerhört verzerrt interpretierte. Dort jemand, der Lautsprecherkabel um 40.000 Dollar kauft, um einen möglichst reinen Sound zu bekommen. Der aussichtslose Abwehrkampf gegen die akustische Kontamination und die aktive Zerstörung des Materials treffen sich laut Fuchs dann an einem Punkt, den man als "akustische Ruinierung" bezeichnen könnte: Die einen fürchten sich davor, die anderen sind davon fasziniert.

Ruinöse Erinnerungen an Malta

Gegensätze offenbaren sich auch in den Betrachtungen von Daniel Vella, der seine Erinnerungen an das Malta, in dem er in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren aufgewachsen ist, einbrachte: "Ein Land der Ruinen, dessen Landschaften von den verlassenen und verfallenden Strukturen des britischen Kolonialismus und der Johanniter-Ritter geprägt waren."

Dafür stehen zum Beispiel die Ruinen von Fort Campbell, eine Kaserne und Geschützstellung aus dem Zweiten Weltkrieg mit Blick auf die St. Paul's Bay im Norden von Malta. Die verfallenden Betongebäude sind seit dem Krieg verlassen und werden langsam von der Vegetation zurückerobert. "Die Ruinen verbinden Erinnerung mit Verheißung und Potenzial: Sie erinnern an das historische Trauma von Krieg und Kolonialismus und sind gleichzeitig ein beliebter Picknickplatz für Familien und für Kinder ein reichhaltiger Spielplatz für Erkundungen und Fantasiespiele."

Abkehr von eurozentrischer Perspektive

Vella erkennt in Ruinen das dunkle, unheimliche Unterbewusstsein der Utopie, eine ständige Erinnerung an das, was für den Fortschritt geopfert wurde. Um das zu verdeutlichen, sei es notwendig, den Blickwinkel zu wechseln, meint Karin Harrasser. Sie regt deshalb eine "Dezentrierung einer auf sehr bequemen Grundlagen ruhenden eurozentrischen Perspektive" an. Man denke nur an die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen von Minenarbeitern im südlichen Afrika, getrieben vom Markt für Edelmetalle oder seltene Erden im Globalen Norden: "In den Ruinen leben und arbeiten müssen immer ganz andere."

In den ökologischen Ruinen des Kobaltabbaus in der Demokratischen Republik Kongo sieht auch Daniel Vella die "hässliche, unsichtbare Kehrseite" des Techno-Utopismus von Silicon Valley: "Ruinen erinnern uns daran, dass eine Utopie für die einen immer eine Dystopie für die anderen ist: für die, die weggefegt wurden, oder für die, die anderswo ausgebeutet werden. Und so sind Ruinen die Dekonstruktion utopischer Fortschrittsvisionen, die zeigen, dass sie immer auf Gewalt und ungleicher Macht beruhen." (Mario Wasserfaller, 4.2.2023)