Karl Nehammer
Bundeskanzler und ÖVP-Bundesparteiobmann Karl Nehammer hielt vergangene Woche in Wels eine Rede.
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Geht es nach den Umfragen, dann sind die beiden die Jäger des Wahlfavoriten Herbert Kickl: Karl Nehammer und Andreas Babler haben die größten Chancen, den FPÖ-Chef als Kanzler zu verhindern. Das gilt nicht nur für den Fall, dass einer aus dem Duo mit seiner Partei doch noch den Sprung auf Platz eins schafft. Bei einer entsprechenden Mehrheit könnten ÖVP und SPÖ auch als Wahlverliererinnen eine Koalition schließen, um die Blauen in der Opposition zu halten.

Doch gibt es dafür genug Gemeinsamkeiten? Aufschluss bieten die jüngsten programmatischen Reden: Babler war im November in Graz vor die eignen Anhänger getreten, Nehammer tat es ihm vergangene Woche in Wels gleich. Wie es der Brauch ist, fielen die gegenseitigen Bewertungen hinterher vernichtend aus. Doch wer tiefer schürft, stößt auf mehr Gemeinsamkeiten, als der tagespolitische Schlagabtausch suggeriert.

Alle wollen Steuern senken

Mehr Netto vom Brutto: Die Senkung der Lohn- und Einkommensteuer ist eines jener Versprechen, die fast jeder Wahlwerber für Pflicht hält. So will Nehammer den bei rund 14.000 Euro brutto im Jahr einsetzenden Eingangssteuersatz von 20 auf 15 Prozent drücken, dazu soll der Steuersatz von 48 Prozent – die vierte von sechs Steuerstufen – entfallen. Zumindest mit Teil eins sollten die Sozialdemokraten wenige Probleme haben, wollen sie doch selbst kleine und mittlere Einkommen entlasten. Auf welchem Weg genau, hat sich Babler noch nicht festgelegt.

Heikler ist ein zweites ÖVP-Anliegen. Bis 2030 will Nehammer die sogenannten Lohnnebenkosten um 0,5 Prozent pro Jahr senken. Die Verheißung dahinter: Wer Arbeit entlastet, schaffe damit Jobs. Die SPÖ widerspricht dieser Logik nicht grundsätzlich, warnt aber davor, dass im Gegenzug das Geld für die mit diesen Abgaben finanzierten Leistungen fehlt: von der Kranken- über die Pensions- bis zur Arbeitslosenversicherung.

Großer Streitpunkt ist deshalb die Gegenfinanzierung. Während die ÖVP die Steuer- und Abgabenquote von rund 43 auf unter 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts drücken will, was sich dank größerer Leistungsbereitschaft wirtschaftlich für den Staat rechnen soll, sehen die Sozialdemokraten darin einen Weg in die Demontage des Sozialsystems. Sie fordern zur Kompensation etwaiger Steuerentlastungen eine Vermögens- und Erbschaftssteuer. Doch genau diesen Plan hat die ÖVP trotz vorgesehener Freibeträge von einer Million Euro und mehr zum No-Go erklärt.

Video: Nehammers "Österreich-Plan": Steuersenkungen "für die arbeitende Mitte."
APA

Arbeitslose als Streitfall

Was Nehammer neben Subventionskürzungen und Deregulierungsmaßnahmen als Gegenfinanzierung verbucht, bringt wiederum die SPÖ in Rage: Künftig soll das Arbeitslosengeld mit der Dauer des Bezugs von 55 auf unter 50 Prozent des letzten Nettolohns absinken. Abgesehen von der Einsparung erhofft sich die ÖVP davon einen Motivationsschub für die Betroffenen, sich rascher einen Job zu suchen. Menschen würden in finanzielle Nöte gestürzt, hält Babler entgegen und propagiert das glatte Gegenteil: eine Anhebung auf 70 Prozent Nettoersatzrate.

Genauso inakzeptabel ist für die rote Seite die Nehammer-Idee, die Sozialhilfe, ehemals Mindestsicherung, nur noch als "Sachleistungen" auszubezahlen – etwa in Form von Gutscheinen. Über eine derartige Schikane wolle man "nicht einmal reden", sagt ein Vertreter aus dem Parlamentsklub. Des Kanzlers Ankündigung, Sozialleistungen generell erst nach fünf Jahren Aufenthalt zu gewähren, hakt man analog zu Expertenmeinungen als irrelevant, weil rechtlich bereits umgesetzt beziehungsweise nicht umsetzbar ab.

Umgekehrt wird sich Babler schwertun, so etwas wie die von ihm vage angekündigte Kindergrundsicherung bei der Gegenseite durchzubringen. Denn das würde nach aller Logik auch mehr Geld für Familien beinhalten, die mangels Arbeit nicht zu den Leistungsträgern nach ÖVP-Lesart zählen.

Nicht jedes Reizthema provoziert

Einander näher als in früheren Zeiten stehen die beiden ehemaligen Großparteien hingegen bei einem anderen Reizthema: Im Gegensatz zu den Zeiten vor Sebastian Kurz drängt die ÖVP nicht mehr auf gröbere Reformen im Pensionssystem, um die Kosten zu drücken – auch im "Österreich-Plan" macht Nehammer keine diesbezüglichen Anstalten. Dass die ÖVP die private Pensionsvorsorge steuerlich begünstigen will, ist zwar nicht im Interesse der SPÖ, aber eine eher nebensächliche (Geld-)Frage.

Auch das Pensionssplitting ist kein Anliegen, mit dem eine Koalition steht oder fällt: Schon in der aktuellen Regierung mit den Grünen versucht die ÖVP das Ansinnen durchbringen, dass Pensionsansprüche bis zum zehnten Lebensjahr des gemeinsamen Kindes automatisch zu gleichen Teilen auf beide Eltern aufgeteilt werden. Erfolg hatte sie trotz Festschreibung im Koalitionspakt bisher nicht, deshalb findet sich die Idee nun in Nehammers "Österreich-Plan" wieder – wenn auch mit Opt-out-Möglichkeit. Während sich die ÖVP davon höhere Pensionsansprüche für Mütter verspricht, sieht die SPÖ keinen substanziellen Beitrag gegen Frauenarmut.

Grundsätzlich unumstritten ist eine andere Maßnahme, um Frauen die gleichen Chancen bei Beruf, Einkommen und Pensionshöhe zu bieten: Anders als früher der Fall, geriert sich mittlerweile nicht mehr nur die SPÖ als Vorkämpferin für einen massiven Ausbau der Kinderbetreuung. Auch der ÖVP-Chef hat das Thema entdeckt – und preist die von der Regierung beschlossenen Investitionen von 4,5 Milliarden Euro bis 2030 an.

Nicht einmal ignorieren will die SPÖ hingegen einen anderen geschlechterrelevanten Vorstoß Nehammers: In die "absurde und peinliche" Debatte darüber, ob das Binnen-I und andere Sonderzeichen beim Gendern in Schriftstücken der Verwaltung abgeschafft werden sollen, werde man angesichts ernster Sorgen wie der Teuerung partout nicht einsteigen.

Geistige Verwandtschaften

Bei einigen wirklich großen Themen sind Türkise und Rote dafür durchaus Verwandte im Geiste. Dass Nehammer neben Öffis auch Straßen ausbauen möchte, mag Grüne aufregen, nicht aber beträchtliche Teile der immer schon beton- und autoaffinen SPÖ. Ein weiterer gemeinsamer Nenner sind die Investitionen in das öffentliche Gesundheitssystem, vor allem in zusätzliche Kassenärzte. Allerdings gibt es mit der türkis-blauen Kassenreform auf diesem Feld auch eine schwere Altlast zu bewältigen: Die SPÖ hat die Rücknahme der Entmachtung der (roten) Arbeitnehmervertreter im Apparat der Sozialversicherungen zum Ziel erklärt.

Natürlich ließen sich noch viele Streitpunkte mehr finden. In der Schulpolitik etwa leben ÖVPler und SPÖler schon seit Jahrzehnten in verschiedenen Welten, und auch in der Wohnfrage trennt die Parteien Grundsätzliches. Dass Nehammer die Möglichkeit für Mieter, eine Genossenschaftswohnung günstig zu kaufen, massiv ausweiten will, geht Babler und Co gegen den Strich. Geförderte Mietwohnungen sollten als Ressource für spätere Generationen erhalten bleiben, so das Gegenargument.

Doch nicht jeder Widerspruch wird zur unumstößlichen Hürde. Wie flexibel die Parteien beim Versuch einer Regierungsbildung letztlich sein werden, hängt von der Alternative ab: Die Aussicht auf (weitere) fünf Jahre Opposition hat schon manchen Grundsatz bröckeln lassen. (Gerald John, 30.1.2024)