Palästinensische Flüchtlinge auf dem Weg von Khan Younis Richtung Rafah im Süden des Gazastreifens.
Palästinensische Flüchtlinge auf dem Weg von Khan Younis Richtung Rafah im Süden des Gazastreifens.
EPA/MOHAMMED SABER

Fünf Wochen lang war Sean Casey für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Gazastreifen, um die Einsätze der internationalen medizinischen Helfer zu koordinieren. Nun erzählt er, auf welche Hürden er dabei stieß.

STANDARD: Kürzlich argumentierte Israel vor dem Internationalen Gerichtshof, dass sich die Lage in Gaza zuletzt verbessert habe: Feldspitäler wurden errichtet, mehr Hilfe kam nach Gaza. Können Sie das bestätigen?

Casey: Ich arbeite seit zwanzig Jahren in Krisenregionen, und ich habe noch nie so eine rapide und dramatische Verschlechterung der humanitären Lage in so kurzer Zeit gesehen. Ja, die Feldspitäler haben ein paar Hundert zusätzliche Betten gebracht – aber was wir brauchen, sind tausende. Dieser Konflikt hat tausende Menschenleben und Gliedmaßen gekostet, viele von ihnen hätten gerettet werden können.

STANDARD: Woran liegt das?

Casey: An der Intensität der Kämpfe, am beschränkten Zugang für humanitäre Helfer. Alle unsere Bewegungen mussten mit den Konfliktparteien abgestimmt werden. In vielen Fällen wurden uns diese Bewegungen untersagt. Es geschah nicht nur einmal, sondern regelmäßig, dass wir unsere Konvois startbereit hatten und die Routen geplant hatten, aber nicht liefern konnten, weil wir keine Genehmigung bekamen, nach Khan Younis oder in den Norden zu fahren.

STANDARD: Ist der Zugang in Rafah, wo viele Binnenflüchtlinge leben, weniger eingeschränkt?

Casey: Es ist herausfordernd. Rafah hatte zuvor 270.000 Einwohner, jetzt über eine Million, und es werden ständig mehr. Sich innerhalb Rafahs zu bewegen ist extrem schwierig, weil die Menschen ihre Notunterkünfte auch auf den Straßen errichtet haben. Mancherorts haben sie das Pflaster der Straßen aufgerissen, um damit Behausungen zu bauen – weil sie einfach sonst keine Bleibe haben. Wenn wir als WHO mit dem Lkw durch die Straßen fuhren, riefen wir durch die Lautsprecher, dass wir nur medizinische Vorräte an Bord haben, keine Lebensmittel. Trotzdem rannten sie auf uns zu in der Hoffnung, Essen oder Wasser zu finden oder einfach irgendetwas, das sie verwenden können, um Zelte zu bauen. Die Menschen sind extrem verzweifelt.

STANDARD: Wie ist die Lage in den Krankenhäusern?

Casey: Traditionell hat Gaza ein robustes Gesundheitssystem und gut ausgebildete Ärzte, es gäbe genügend Personal. Leider mussten Tausende dieser Ärzte und Pfleger in den Süden flüchten, weil ihre Häuser zerbombt wurden oder sie zur Evakuierung aufgerufen wurden. Viele von ihnen sind jetzt in Rafah, leben in Zelten und können nicht arbeiten, weil sie den ganzen Tag damit beschäftigt sind, sich um ihre Familien zu kümmern und Nahrung zu finden. Die Krankenhäuser sind auch schwierig zu erreichen, weil rundherum oft geschossen wird. Bei jedem einzelnen Besuch in einem Krankenhaus in Gaza begegnete ich Patienten, die dringend Essen und Wasser brauchten. Im Norden sind die Krankenhäuser so überfüllt, dass ich in den Notaufnahmen Probleme hatte, nicht auf Menschen zu steigen. Ich sah Patienten, die eigentlich auf der Intensivstation sein müssten – aber sie lagen da und schrien nach Wasser und Essen. Das waren dramatische Szenen.

STANDARD: Wie viele Menschen sterben an den Kämpfen, wie viele wegen Hungers und Seuchen?

Casey: Schwer zu sagen. Aber die Menschen hungern seit Wochen, teils seit Monaten. Dazu kommt, dass die Temperaturen sinken und viele keinen Zugang zu warmer Kleidung oder Decken haben. Wo die Massen sind, fehlt es am Zugang zu Toiletten und Handhygiene. Wir sehen eine starke Zunahme an Atemwegserkrankungen, Durchfall und Gelbsucht, und unter diesen Bedingungen wird sich das weiter ausbreiten. Die Immunsysteme sind wegen der anhaltenden Mangelernährung geschwächt.

STANDARD: Angenommen, ich bin eine Mutter in Khan Younis, deren Kleinkind unter schwerem Durchfall und Dehydrierung leidet. Was raten Sie mir?

Casey: Wenn Sie mit dem Kind in eine Klinik wollen, müssen Sie sich bewusst sein, dass Sie dabei ihr Leben aufs Spiel setzen – wegen der Kämpfe in der Stadt. Kommen Sie in der Klinik an, ist sie so überfüllt, dass dort vielleicht kein Arzt oder keine Pflegerin für Sie da ist. Sollten Sie Glück haben und behandelt werden, dann werden Sie große Probleme haben, die nötigen Medikamente zu finden. Und das Risiko, dass auch der Rest der Familie sich ansteckt, ist sehr hoch, weil es am Zugang zu Hygiene und sauberem Wasser mangelt.

STANDARD: Sollte ein neuer Geiseldeal eine Waffenruhe von mehreren Wochen bringen: Würde das die Lage entspannen?

Casey: Eine Waffenruhe ist der einzige Weg, um die dringenden Bedürfnisse zu decken. Es braucht aber Monate. Eine kurze Waffenpause würde zwar erlauben, dass mehr Hilfe hineinkommt – aber wir können nicht Millionen Menschen auf extrem gedrängtem Raum im Süden versorgen. Das ist einfach eine unhaltbare humanitäre Situation.

STANDARD: Israel sagt, dass die Hamas humanitäre Güter für sich abzweigt. Haben Sie das beobachtet?

Casey: Ich habe nicht beobachtet, dass Hilfe abgezweigt wurde. Was ich gesehen habe, ist ein enormes Ausmaß an Verzweiflung. Nahrungslieferungen werden laufend überrannt, weil die Menschen so verzweifelt sind. So etwas habe ich in zwanzig Jahren nicht gesehen – und ich war in Haiti, im Südsudan, in Mali, im Irak, in mehr als 45 Ländern. (Maria Sterkl, 31.1.2024)

WHO-Einsatzkoordinator Sean Casey.
WHO-Einsatzkoordinator Sean Casey.
Casey