Richterin Joan Donoghue (Mitte rechts) verkündete am Freitag eine erste Entscheidung im von Südafrika angestrengten Genozidverfahren gegen Israel. Die verhängten Sofortmaßnahmen sind alles andere als konkret, Israel muss aber in einem Monat Bericht erstatten.
EPA/Remko de Waal

"Die katastrophale humanitäre Lage in Gaza droht sich weiter zu verschlimmern", wenn man nichts unternehme – befindet der Internationale Gerichtshof (IGH) am Freitag in Den Haag. Israel müsse handeln, ist das Gericht überzeugt – und weist damit den israelischen Vorwurf, die Klage Südafrikas sei aus der Luft gegriffen und daher zurückzuweisen, klar zurück. Die Maßnahmen, die der Gerichtshof Israel nun auferlegt, sind aber alles andere als konkret. Von der Verhängung einer Waffenruhe sah das Gericht ab. Es trug Israel lediglich auf, auf die Einhaltung seiner Verpflichtungen im Rahmen der Genozidkonvention zu achten und dafür zu sorgen, dass sich die Armee im Gaza-Einsatz auch daran hält.

Dabei geht es nicht nur um die Kampftaktik der Armee, sondern auch um die horrenden Lebensumstände im Gazastreifen. Unter anderem müsse Israel dafür sorgen, dass keine Geburten verhindert werden. Zuvor hatte der Gerichtshof UN-Zahlen zitiert, wonach die katastrophale Lage in Gaza Schwangerschaften und Geburten gefährdet.

Das Gericht trug Israel auch auf, "sofort wirksame Maßnahmen" zu ergreifen, um etwas gegen die lebensbedrohenden Bedingungen in Gaza zu unternehmen. Wie vielfach erwartet, ließ sich das Gericht vom Vorwurf der Anstachelung zum Völkermord überzeugen: Aussagen hochrangiger Politiker – darunter Verteidigungsminister Yoav Gallant und Staatspräsident Yitzhak Herzog – dienten dem Gericht als Indiz, dass die israelische Justiz zu wenig gegen solche hetzerischen Aufrufe unternehme. Das müsse sich ändern, verlangt das Gericht.

Frist von einem Monat

Ganz unkonkret blieb es dann aber doch nicht: Der Gerichtshof fordert Israel auf, binnen einem Monat einen Bericht abzuliefern, in dem dargelegt wird, was der Staat unternimmt, um all diese Punkte zu erfüllen. Diesen Bericht könne Südafrika dann kommentieren. Bericht und Kommentar werden dann wohl ins weitere Verfahren einfließen.

Begeht Israel im Gazastreifen also einen Völkermord? Um diese Frage ging es in diesem Verfahrensschritt nicht – noch nicht. Das Gericht muss das im Hauptverfahren klären, eine Antwort wird es wohl erst in mehreren Jahren geben. Der IGH hat Israel aber aufgetragen, alles zu tun, damit keine Beweise vertuscht werden, die für das Verfahren wichtig sein könnten.

Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag wurde am Freitag auch protestiert.
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Zwei der Maßnahmen fanden übrigens auch die Zustimmung des israelischen Ad-hoc-Richters Aharon Barak: Auch dieser war der Meinung, dass Israel konkrete Schritte unternehmen müsse, um Anstachelung zum Genozid zu verhindern und die humanitäre Lage im Gazastreifen zu entspannen. Alle Maßnahmen fanden außer durch Barak nur eine Gegenstimme, sie kam durchwegs von Richterin Julia Sebutinde aus Uganda.

Nervosität in Israel

Im Vorfeld hatte die Urteilsverkündung in Israel für einige Nervosität gesorgt. Am Donnerstag hatte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Vertreter der Justiz und der Regierung in Tel Aviv für eine kurzfristig angesetzte Strategiebesprechung zusammengetrommelt, um zu beraten, wie man sich auf den Worst Case vorbereiten könnte. Israel hatte sich vor dem Gericht damit verteidigt, dass man im Gazastreifen in einen extrem komplexen Krieg verwickelt sei. "Ein Krieg, den Israel nicht begonnen und nicht gewollt hat", wie einer der Juristen vor dem IGH betonte.

Zudem sei die hohe Zahl an toten Zivilisten in Gaza eine Folge der Hamas'schen Taktik, sich hinter zivilen Zielen zu verstecken. Israels Armee unternehme viel, um übermäßigen Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden, sagten die israelischen Vertreter in der Verhandlung vor zwei Wochen in Den Haag. Sie verwiesen unter anderem auf die mehrmaligen Evakuierungsaufrufe der Armee an die Zivilbevölkerung. Diese dienten dazu, die Menschen aus der Kampfzone und in ruhigere Gebiete im Süden des Gazastreifens zu leiten.

Südafrika argumentierte, dass selbst diese südlichen Gebiete nicht sicher vor Beschuss seien und dass die Evakuierung an sich schon in genozidaler Absicht stattgefunden habe. Begründet wurde dies mit der katastrophalen humanitären Lage in den südlichen Gebieten. Der Massenhunger treffe schließlich alle Menschen in Gaza, nicht nur die Hamas-Kämpfer – oder diese sogar am wenigsten. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 26.1.2024)