Der jüdische Südafrikaner Andrew Feinstein (59) war einst im Befreiungskampf gegen die Apartheid aktiv und zog im Jahr 1994 als Abgeordneter für die Regierungspartei African National Congress (ANC) in das erste demokratisch gewählte Parlament ein. Korruption im ANC bei Waffengeschäften veranlasste Feinstein im Jahr 2001 zum Parteiaustritt. Von London aus wurde er zu einem der prominentesten ANC-Kritiker, als Gründer der Organisation Shadow World Investigations ermittelt er weiterhin zu kriminellen Strukturen der Waffenindustrie. Die Völkermordklage Südafrikas gegen Israel aber unterstützt Feinstein. Im Interview spricht der ehemalige Politiker über die komplizierte Geschichte beider Länder – und seinen Vorwurf der Apartheid gegen Israel.

STANDARD: Die Familie Ihres Vaters floh einst vor einem Judenpogrom aus Russland während des Zarenreichs. Ihre Mutter überlebte als eine der wenigen Wiener Jüdinnen den Zweiten Weltkrieg, weil sie sich in einem Kohlekeller versteckte. Wie haben Sie angesichts Ihrer Familiengeschichte die Terroranschläge des 7. Oktobers in Israel wahrgenommen?

Feinstein: Es war zutiefst schrecklich, von diesem unermesslichen menschlichen Leid zu erfahren. Aber ich habe nicht als Erstes an den Holocaust gedacht, sondern an Südafrika während der Apartheid, wo meine eigene ehemalige Organisation, der ANC, bewaffneten Widerstand gegen eine sehr brutale und rassistische Unterdrückung geleistet hat. Obwohl dieser in der Theorie nicht auf Zivilisten abzielte, gab es doch Fälle, bei denen Zivilisten ermordet wurden.

STANDARD: Der ANC hat anders als die Hamas zivile Gemeinden nicht als vorrangiges Angriffsziel erachtet.

Feinstein: Doch, solche Angriffe hat es gegeben. Beim Bombenanschlag auf die Magoo's Bar in Durban im Jahr 1986 wurden zum Beispiel viele Zivilisten ermordet und verletzt. Das Ausmaß von dem, was am 7. Oktober in Israel passierte, ist natürlich deutlich größer. Aber gleichzeitig gilt, was Erzbischof Desmond Tutu einst sagte: Er glaubte, dass die Form der Apartheid in Israel und die Brutalität, mit der sie umgesetzt wird, schlimmer ist als das, was wir in Südafrika erlebt haben. Das soll in keiner Weise die Grausamkeit der Taten des 7. Oktober relativieren, aber sehr wenige Gewalttaten kann man isoliert betrachten.

Pro-palästinensische Demonstrierende im Dezember im Pretoria.
Propalästinensische Demonstrierende im Dezember in Pretoria. Andrew Feinstein glaubt, dass die große Mehrheit der Südafrikaner dem Leid der Palästinenser solidarisch und Israel kritisch gegenübersteht.
AFP/ROBERTA CIUCCIO

STANDARD: In der britischen Labour Party, deren Mitglied Sie sind, läuft seit Jahren eine Untersuchung gegen Sie, weil Sie Israel als Apartheid-Staat bezeichnen. Wie begründen Sie den Vergleich?

Feinstein: Nehmen Sie den aktuellen Krieg. Wenn wir von 22.000 Toten in Gaza ausgehen – wie kann man argumentieren, dass das eine proportionale Antwort auf den natürlich schrecklichen Mord an 1.200 Toten ist? Die einzige Möglichkeit impliziert, dass ein jüdisches Leben mehr wert ist als ein palästinensisches. Und das bringt uns zurück zum System der Apartheid in Südafrika. Denn darauf basierte es: auf der Annahme, dass das Leben der einen mehr wert ist als das der anderen.

STANDARD: Israel reagiert auf eine Terrororganisation, die unverhohlen die Auslöschung des Landes fordert.

Feinstein: Die Hamas ist nicht gleichbedeutend mit den Palästinensern. Nicht jeder Mensch in Gaza teilt die Hamas-Ideologie vollumfänglich und verdient den Tod. Genau das aber haben einige Kabinettsmitglieder in Israel gefordert. In jeder normalen Gesellschaft wären diese Minister wegen Volksverhetzung im Gefängnis.

STANDARD: Sie haben den südafrikanischen Antrag "als außergewöhnliches Dokument" bezeichnet. Was macht es aus Ihrer Sicht besonders?

Feinstein: Ich untersuche seit 23 Jahren die weltweite Waffenindustrie, die über 40 Prozent der globalen Korruption ausmacht und nicht nur auf Südafrikas Gesellschaft enorm korrumpierend gewirkt hat. Ich habe zu Kriegsverbrechen ermittelt, besonders zum Genozid in Ruanda. Ich habe also viele juristische Texte studiert, aber dieses ist bei weitem das imposanteste. Es ordnet die Ereignisse in Gaza mit bemerkenswerter Präzision in einen legalen Rahmen ein.

STANDARD: Was sind Ihre Erwartungen? Würde ein Urteil gegen Israel die Kriegsführung in Gaza beeinflussen?

Feinstein: Es würde ein neues Ausmaß des moralischen Drucks auf Israel bedeuten, für mehr Momentum von Protesten sorgen. Und es würde für westliche Länder schwieriger, ihre aktuellen Positionen zu halten. Wir sehen schon jetzt, dass die politischen Anführer in einem Ausmaß distanziert von einer Mehrheit ihrer Bürger sind, die wir zumindest in England seit der Invasion des Iraks nicht mehr erlebt haben. 76 Prozent der Briten wollen einen unverzüglichen Waffenstillstand.

STANDARD: Welche Rolle spielt bei der Klage, dass Israel bis tief in die 1980er-Jahre das Apartheid-Regime unterstützt hat?

Feinstein: Wie kann man gegenüber dem engsten Freund seines Unterdrückers nicht kritisch eingestellt sein? Ein Land, das den Unterdrücker mit Waffen versorgt hat? Diese eigene Perspektive spielt natürlich eine Rolle. Ich glaube, dass die große Mehrheit der Südafrikaner dem Leid der Palästinenser solidarisch und Israel kritisch gegenübersteht. Und zwar zu Recht.

STANDARD: Ihre Position steht im Gegensatz zu der von jüdischen Organisationen in Südafrika. Dort war die Rede davon, dass sich Südafrika mit seiner Klage international blamiere. Spiegelt das die Meinung der Jüdinnen und Juden in Südafrika wider?

Feinstein: Der Anspruch, dass jemand im Auftrag der diversen jüdischen Gemeinde wie für einen monolithischen Block spricht, beleidigt mich. Das South African Jewish Board of Deputies setzte sich früher nicht für jüdische Anti-Apartheid-Aktivsten wie Joe Slovo, Ruth First, Gill Marcus, Denis Goldberg oder Ronnie Kasrils ein, hat sie vielmehr geächtet. Das ist keine Instanz der Moral. Das Gegenteil einer Blamage ist doch der Fall. Südafrika erfährt von Ländern aus allen Teilen der Welt ein starkes Maß an Dankbarkeit. Die Nationen außerhalb des Westens verstehen, dass es wegen unserer Geschichte wichtig ist, dass wir es waren, die diesen Fall vor den Internationalen Gerichtshof gebracht haben: weil wir es trotz aller anhaltenden Probleme geschafft haben, institutionalisierten Rassismus zu überwinden. (Christian Putsch aus Kapstadt, 11.1.2024)