Das Jahr 2024 wird ein regelrechtes "Superwahljahr". Schließlich kann die österreichische Bevölkerung bei der EU-Wahl, den Landtagswahlen in der Steiermark und Vorarlberg, den Gemeinderatswahlen in Salzburg und Innsbruck, der Arbeiterkammerwahl und allen voran der Nationalratswahl ihre Stimmen abgeben und damit erheblichen Einfluss auf die zukünftige Gestaltung des Landes nehmen. Auch international gesehen finden einige spannende Wahlgänge im heurigen Jahr statt, wie beispielsweise in den USA, Großbritannien oder Ostdeutschland.

Obwohl durch Wahlen die Politik der nächsten Jahre entschieden wird, nimmt der Anteil der Nichtwähler und Nichtwählerinnen stark zu und würde als "Partei der Nichtwählerschaft" zahlenmäßig teils die "stärkste Kraft" darstellen. Diese Menschen gemeinhin als "dumm" oder "politisch uninteressiert" abzustempeln, weil sie ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen, ist jedoch mehr als verfehlt. Vielmehr sollten die dahintersteckenden Beweggründe aufgearbeitet werden.

Hinweisschild Wahllokal
In Wien beteiligen sich verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark an den Wahlen, auch Arbeitslosigkeit ist ein Faktor. Wie lässt sich das erklären?
APA/BARBARA GINDL

Denn die politische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger gilt, laut der partizipatorischen Demokratietheorie, als das Herzstück der Demokratie. Trotz abweichender Interpretationen, welche eine niedrige Wahlbeteiligung oftmals als "stille Zustimmung" deuten, sehen politische Beobachter und Beobachterinnen die global und auf allen Ebenen sinkende Wahlbeteiligung daher sehr kritisch. Oft ist vor diesem Hintergrund die Rede von einer "Partizipationskrise", wodurch sich zunehmend eine sogenannte "Zwei-Drittel-Demokratie" herausbildet.

Sozial und räumlich ungleiche Wahlbeteiligung

Noch schwerwiegender als die generelle Abnahme der Wahlbeteiligung wird jedoch die sozial und räumlich ungleich verteilte Wahlbeteiligung gesehen, die sich seit den 1980er-Jahren verstärkt zeigt. Dies gefährdet, nach Meinung namhafter Politologen und Politologinnen, wie Sidney Verba, Robert Dahl und Arend Lijphart, die politische Gleichheit. Für das adäquate Funktionieren und die Legitimation eines demokratischen Systems müssen alle gesellschaftlichen Gruppen miteingeschlossen werden, um die Diversität der Interessen in der Politik richtig abbilden zu können. Das ist nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil sozioökonomisch benachteiligte Personen generell andere politische Präferenzen aufweisen, wie beispielsweise in Bezug auf wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen.

Zunehmend auseinanderdriftende Stadtteile

Insbesondere in Städten bilden sich jedoch regelrechte Ballungsräume: einerseits von gewissen sozioökonomischen Gesellschaftsschichten und andererseits von Wählerinnen und Wähler auf der einen Seite sowie Nichtwählerinnen und Nichtwähler auf der anderen Seite. Städte können damit als besondere Herausforderung für das demokratische System bewertet werden. Während die antiken griechischen Städte in Form der Polis die erste Grundlage für die Demokratie waren, so sind Städte heutzutage zunehmend Katalysatoren der sozialen Spaltung. Zwar hat eine räumliche Verdichtung von Armut und Reichtum in Städten schon im antiken Athen bestanden, doch hat sich in den letzten Jahrzehnten die Trennung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen (soziale Segregation) sowie die Konzentration ärmerer Bevölkerungsschichten in spezifischen Gebieten (Residualisierung) stark verschärft – selbiges gilt für die zunehmend auseinanderdriftenden Wahlbeteiligungsquoten zwischen den einzelnen Stadtteilen.

Effekt der Arbeitslosigkeit auf die Wahlbeteiligung

In der Forschung wird zur Erklärung der Partizipation häufig die Arbeitslosigkeit herangezogen, wobei jedoch der genaue Effekt heute noch umstritten ist. Ein Theoriestrang geht davon aus, dass eine höhere Arbeitslosigkeit zu einer niedrigeren Wahlbeteiligung führt, da die Menschen aufgrund ihrer derzeitigen Lebenssituation von der Politik enttäuscht sind und ein Gefühl der politischen Wirkungslosigkeit vorherrscht. Andere gehen wiederum davon aus, dass eine höhere Arbeitslosigkeit zu einer höheren Wahlbeteiligung führt, da die betroffenen Menschen mithilfe der Wahl ihre eigene Lebenssituation verbessern möchten und auch ihre Sorgen bzw. ihren Unmut den politischen Entscheidungsträgern und -trägerinnen vermitteln wollen.

Wirkung der Arbeitslosigkeit auf die Wahlbeteiligung

Die Mehrzahl der bisherigen Forschung, die sich mit diesem Thema befasst, fokussiert sich dabei auf die staatliche oder regionale Ebene. Gleichwohl sind Stadtteile für die wissenschaftliche Untersuchung eigentlich besser geeignet, da hier die Unterschiede hinsichtlich sozioökonomischer Faktoren und der Wahlbeteiligung noch weitaus stärker ausgeprägt sind.

Im Rahmen meiner Bachelorarbeit wurden daher die Gemeinde- und Nationalratswahlen in den Wiener Stadtbezirken seit den Anfängen der 2000er-Jahren genauer überprüft. Dabei stellte sich letztlich heraus, dass die Arbeitslosigkeit tatsächlich einen negativen Einfluss auf die Höhe der Wahlbeteiligung ausübt, was besonders im Falle der Nationalratswahlen gilt.

Ähnlich wie die Wahlbeteiligung, ist nämlich auch die Arbeitslosenquote in den letzten Jahren zwischen den Wiener Bezirken immer ungleicher geworden: während manche Bezirke im Jahr 2020 beispielsweise eine Arbeitslosenquote von unter fünf Prozent aufwiesen, so gibt es Bezirke, wo diese an die 15 Prozent grenzt. Eine Kluft, die sich im Untersuchungszeitraum verdoppelte und letztlich auch dazu führte, dass sich die Menschen in den besonders negativ betroffenen Bezirken zunehmend von der Politik entfremdeten. Denn je größer die Unterschiede in Bezug auf die Arbeitslosigkeit zwischen den Bezirken über die Jahre hinweg wurden, desto stärker wurden auch die Unterschiede in den Wahlbeteiligungsquoten.

Entwicklung der Wahlbeteiligung in Wien

Des Weiteren hat sich im Zuge meiner durchgeführten Untersuchung gezeigt, dass sich die Wahlbeteiligung in Wien zwischen den Stadteilen über die Zeit hinweg extrem stark verändert hat. Denn während einst quasi kein Unterschied zwischen den unterschiedlichen Wiener Stadtbezirken hinsichtlich der Wahlbeteiligung vorlag, so wuchs über die Jahre hinweg zunehmend eine Kluft zwischen den einzelnen Stadtteilen. Früher gingen die "Arbeiter- und Arbeiterinnenbezirke" (wie Favoriten, Simmering, Floridsdorf und Donaustadt) geschlossen zur Wahl, aber nun sinkt dort seit etlichen Jahren hinweg überall zunehmend die Wahlbereitschaft.

Bürgerliche Bezirke, die vor Jahrzehnten eine niedrige Beteiligungsquote aufwiesen, nutzen ihr Wahlrecht nun in weitaus höherem Umfang als die klassischen Stadtteile der Arbeiterklasse. Seit den letzten zwei Jahrzehnten ist diese Entwicklung besonders ersichtlich und wird immer ausgeprägter, sodass sich mittlerweile Unterschiede in Höhe von über 15 Prozentpunkten ergeben, was die Wahlbeteiligung betrifft. Diese Unterschiede, so zeigen die empirischen Forschungsergebnisse meiner Bachelorarbeit, lassen sich nicht zuletzt auch mit der Höhe der Arbeitslosigkeit erklären.

Folgen für die Politik

Für Parteien ist es aus wahlstrategischen Gründen rational, ihre Wahlkämpfe und Themen an die (aktive) Wählerschaft anzupassen, was mit der Gefahr verbunden ist, dass die Interessen der Nichtwähler und Nichtwählerinnen vernachlässigt werden. Denn die Parteien wollen ihre finanziellen und personellen Ressourcen, die sowieso schon begrenzt sind, möglichst gewinnbringend einsetzen. Die soziale Selektion beim Wahlverhalten hat damit nicht nur einen Einfluss auf den Wahlkampf an sich, sondern auch einen potenziellen Einfluss auf die Parteiprogramme, die Wahlergebnisse und die beschlossenen Gesetze.

Anknüpfungspunkte, um diesem Problem zu begegnen, finden sich daher nicht nur in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- oder Bildungspolitik, sondern etwa auch in der Idee, mehr direktdemokratische Elemente oder eine Wahlpflicht einzuführen. So zeigte sich beispielsweise in Australien, Belgien oder Luxemburg, dass eine Wahlpflicht zu einer höheren und auch sozial gleicheren Beteiligung führt. Kritisch wird jedoch oftmals eingeworfen, dass es sich dabei um einen regelrechten "Wahlzwang" handle, was insbesondere dann gelte, wenn Sanktionen drohen. Auch direktdemokratische Elemente scheinen alleine kein ausreichendes Mittel zu sein, denn obwohl zwar bei den Sachabstimmungen in der Schweiz die Wahlbeteiligung durchaus hoch ist, so geben bei nationalen Wahlen seit 1979 mehr als die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer ihre Stimme nicht ab.

Darüber hinaus gibt es jedoch auch noch viele weitere Lösungsansätze, wie beispielsweise etwa die Einführung einer "Arbeitslosenanwaltschaft", die von der Armutskonferenz schon vor mehr als zwanzig Jahren gefordert und in Wien und Oberösterreich bereits ausgearbeitet wurde. Basierend auf dem Vorbild der niederländischen Betroffenenräte, sollen diese die Interessen der Arbeitslosen im politischen Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozess vertreten und als deren Sprachrohr fungieren, wenn es zum Beispiel um die Bezugskriterien beziehungsweise die Höhe von Arbeitslosengeld geht. Hierdurch würden die betroffenen Menschen wieder das Gefühl bekommen, dass ihre Sorgen und Ängste von der Politik doch ernst genommen werden, was sich somit positiv auf die Wahlbeteiligung auswirken würde. Letztlich aber bedarf es einer Kombination von unterschiedlichsten Ansätzen, um eine höhere und sozial gleichere Wahlbeteiligung generieren zu können, die aus demokratiepolitischer Sicht erstrebenswert wäre. (Denise Grießl, 5.2.2024)