Sein "Österreich-Plan" sei zunächst Programm und noch kein fertiges Regierungsprogramm für eine eventuelle nächste Legislaturperiode, sagt Karl Nehammer. Was der Bundeskanzler und ÖVP-Chef im Detail meint, erläuterte er im STANDARD-Gespräch.

Karl Nehammer sieht Leitkultur als einen Begriff, den man nicht Nationalisten überlassen soll.
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STANDARD: Welche Sozialleistungen sollen jetzt wirklich gekürzt werden, und welche Sozialleistungen gelten nur für Zuwanderer oder auch für andere?

Nehammer: Es betrifft Angehörige von Drittstaaten. Die EU lebt es vor – für EU-Bürger gilt das bereits. Es soll den Anspruch auf volle Sozialleistungen für alle erst nach fünf Jahren geben, ansonsten muss vorher eben ein Arbeitsprozess nachgewiesen werden. Wir sehen gerade in den Ballungszentren massiv, dass der größere Anteil derer, die Sozialhilfe beziehen, aus Drittstaaten kommt. Keine Zuwanderung ins Sozialsystem, sondern Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Das unterscheidet uns von den Radikalen. Eine Gesellschaft braucht Migration in den Arbeitsmarkt, aber es kann nur funktionieren, wenn der Staat die Hoheit hat darüber, wer kommt. In dem Fall ist es die Rot-Weiß-Rot-Card. Die soll künftig noch besser funktionieren und innerhalb von 72 Stunden ausgestellt werden.

Video: Nehammers "Österreich-Plan": Steuersenkungen "für die arbeitende Mitte."
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STANDARD: Sozialzahlungen sollen künftig als Sachleistungen ausbezahlt werden – bedeutet das im Wesentlichen Gutscheine?

Nehammer: Beim Thema Migration gibt es eigene Kartensysteme, die entwickelt worden sind, wo die Leistungen aufgebracht werden, und die sind dann abrufbar. Es gibt bereits eine solche Karte, ein deutsches Bundesland hat schon darauf umgestellt.

STANDARD: Zum Thema Steuersenkungen, die Sie vorhaben: Wie wollen Sie das gegenfinanzieren?

Nehammer: Die Gegenfinanzierung wird einerseits dadurch sichergestellt, dass wir das Fördersystem reduzieren. Das heißt beispielsweise, alle Corona-Hilfen laufen aus. Wir werden auf das europäische Niveau der Förderungssysteme kommen. Wir werden statt Dauerförderungen wieder viel stärker in die gezielte Investitionsprämie gehen. Die hat sich tatsächlich bewährt. Wenn in den Wirtschaftsstandort Österreich investiert wird, dann soll das auch unterstützt werden. Und wir haben durch die Steuerreform ja auch den Effekt, dass eben Arbeiten wieder attraktiver wird. Reduzierung der Lohnsteuer heißt Wettbewerbsvorteile für Österreich.

STANDARD: Okay, das sind jetzt Annahmen. Genau wissen wir es also noch nicht, ob eine Gegenfinanzierung überhaupt möglich ist oder nicht. Und Sie würden notfalls ein erhöhtes Defizit in Kauf nehmen?

Nehammer: Grundsätzliche Berechnungen liegen aber wie gesagt bereits vor, und Maßnahmen zur Entlastung des Budgets sind im Plan ebenso enthalten. Tatsächlich ist es ja so, dass ein Plan noch kein Programm ist und das Programm erst mit einem Koalitionspartner verhandelt werden muss. Und wenn wir dann über seriöse Berechnungen sprechen, wenn die Maßnahmen auch paktiert werden, dann weiß man wirklich, wie viel es kostet und wie viel es bringt.

STANDARD: Stichwort Leitkultur: Was genau heißt gesetzlich definierte Leitkultur?

Nehammer: In allen europäischen Mitgliedsstaaten radikalisiert sich die Rechte. Mein Ziel ist es zu klären: Was erwarten wir von Migranten? Dass die Mitte diese Frage beantwortet und nicht die Radikalen. Der Begriff der Leitkultur in Österreich ist gar nicht sehr komplex. Wir haben eine über 1000-jährige christlich-jüdische Geschichte. Wir haben in unserer Geschichte selbst viele Fehler begangen. Wir wissen im Umgang mit Antisemitismus die Last der Verantwortung zu tragen und kennen auch antidemokratische Tendenzen. Das heißt, all diese Lehren, die wir aus den vergangenen Jahrhunderten gezogen haben. Helmut Schmidt, immerhin Sozialdemokrat, hat es einmal auf eine sehr gute Formel gebracht: Die Zuwanderung aus fremden Zivilisationen schafft mehr Probleme, die Zuwanderung aus verwandten Zivilisationen schafft Lösungen. Wer tatsächlich nach Österreich kommt, tut dies freiwillig. Und aus meiner Sicht ist aus diesem Grund auch zu erwarten, dass hier die gesellschaftlichen Spielregeln akzeptiert werden. Das nenne ich Anpassung.

STANDARD: Das haben wir von der FPÖ auch schon gehört.

Nehammer: Aus meiner Sicht ist das nicht das große Problem. Warum? Jemand, der sich anpasst, muss sich nicht selbst verraten, sondern er drückt Respekt aus. Diese Wertschätzung ist nicht Assimilierung. Das ist ein Unterschied. Ich glaube, wir sollten den Rechtsextremen in dieser Frage nicht das Feld überlassen. Wir sind eine gut gewachsene Gesellschaft in Österreich. Wir haben Vielfalt, Gleichstellung von Mann und Frau, Respekt, Toleranz. Alles Radikale gefährdet die Demokratie, egal ob linksextrem, rechtsextrem oder islamistisch. Genau da muss man ansetzen. Aber ich halte es für notwendig klarzumachen: Wenn du nach Österreich kommst, das sind unsere Spielregeln, und daran hast du dich zu halten.

STANDARD: Zur Klarstellung: Reden wir hier über den niederösterreichischen Schnitzel-Koeffizienten oder nicht?

Nehammer: Leitkultur ist ein politischer Begriff. In der politischen Auseinandersetzung ist es wichtig, das nicht den Nationalisten zu überlassen. Dieser Diskurs ist zu führen, weil die rechtsextreme Szene die Angst schürt. Da müssen wir, bevor es die anderen tun, die Gegenerzählung starten. Es ist aus meiner Sicht die Verantwortung einer Mitte-rechts-Partei wie der Volkspartei, dass hier nicht die Rechtsextremen die Narrative kapern.

STANDARD: Da sind wir gleich bei der FPÖ. Glauben Sie wirklich, dass es einen nennenswerten Unterschied gibt zwischen Kickl und der FPÖ insgesamt?

Nehammer: Das glaube ich schon. Zum einen hat Kickl sich selbst als rechtsextrem bezeichnet. Und das habe ich aufgegriffen. Passt auch gut zu seiner Selbstbeschreibung, weil er ja tatsächlich derjenige ist, der von Fahndungslisten spricht. Oder dass er, wenn er in die politische Verantwortung kommt, dann treten möchte, wie er es wörtlich formuliert hat. Sein Demokratieverständnis ist nicht das meinige und ist aus meiner Sicht überhaupt nur sehr eingeschränkt vorhanden. Ich kenne die Freiheitliche Partei sehr lange und auch andere Akteure und weiß, dass Herbert Kickl die Partei sehr autoritär und sehr unnachgiebig führt. Aber das ist Sache der Freiheitlichen und nicht mein Problem. Dann gibt es auch wieder andere Seiten der Freiheitlichen. Die sind jetzt nicht sichtbar. Mir war wichtig, dass die Österreicherinnen und Österreicher wissen, dass ich nicht zur Verfügung stehe für eine Koalition mit einem FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Das wäre zum Nachteil Österreichs.

STANDARD: Mit wem wollen Sie dann koalieren? Mit dem SPÖ-Vorsitzenden Babler haben Sie auch nicht gerade Freundlichkeiten ausgetauscht.

Nehammer: Zuerst wird gewählt, dann gezählt und dann verhandelt. Das wird schon möglich sein. Ich kenne Andreas Babler seit meiner Zeit als Innenminister. Das Coronavirus hat gewütet, ich als Innenminister und der Herr Bürgermeister von Traiskirchen haben zusammengearbeitet in Sachen Schutz der Gemeinde und der Asylwerber in Traiskirchen. Wir haben das vertrauensvoll und ordentlich gemacht.

STANDARD: Kommen wir zur Europa-Politik. Was heißt "Refokussierung der Union auf eine Wirtschaftsgemeinschaft"?

Nehammer: Das bedeutet keine unpolitische Union. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist ja etwa einer der wesentlichsten Grundpfeiler. Refokussierung bedeutet nichts anderes als das Bekenntnis zur Subsidiarität. Das war auch immer das Ziel der Volkspartei. Es geht um den Regulierungswahn. Wir müssen uns auf einen funktionierenden Markt fokussieren. Die Regulierungen müssen deutlich reduziert werden, mittlerweile auch in der Landwirtschaft. Denn darunter leidet die Konkurrenzfähigkeit der EU.

STANDARD: Sie haben Europa ein Friedensprojekt genannt. Die Verteidigungsministerin sprach davon, dass das Bundesheer "kriegsfähig" werden müsse. Was gilt nun – besonders in Hinblick auf Russland?

Nehammer: Es gibt ein Erwachen in der EU und eine Erkenntnis, dass wir über Jahrzehnte schon unsere eigene Verteidigungsfähigkeit vernachlässigt haben. Wir sind jetzt dabei, diesen Prozess rückgängig zu machen, und rüsten nach. Dabei ist ein Meilenstein das Projekt eines Raketenschutzschirms, um die neuen Bedrohungen, nämlich Drohnen und ballistische Raketen, tatsächlich abzuwehren. Der Iran etwa produziert diese Form der Drohnen bereits massentauglich. Es geht um die Verteidigungsfähigkeit, und die muss in Österreich genauso nachgerüstet werden wie in der gesamten EU.

STANDARD: Aber kriegsfähig?

Nehammer: Ich übersetze das in verteidigungsfähig. Die Sicherheitslage ist seit dem russischen Angriff natürlich instabiler geworden. Dieser 24. Februar 2022 wird mir ewig in Erinnerung bleiben, ich habe die Stimmung beim Rat der Regierungschefs damals hautnah erlebt. Krieg ist unseren Grenzen wieder ganz nahe.

STANDARD: Österreich hatte immer ein gutes Verhältnis zu Russland. Waren wir naiv?

Nehammer: Nein, aber die Zeiten haben sich gerade nach dem brutalen russischen Angriff auf die Ukraine verändert. Mit Russland wird es immer ein Spannungsfeld geben. Man wird aber versuchen müssen, mit Russland Wege des Miteinanders und des Auskommens zu finden. Immer wissend, dass Russland ein, wie soll ich sagen, außergewöhnlicher Verhandlungspartner sein wird. Darüber hinaus verdanken wir vieles, was uns nach der Niederringung des Nationalsozialismus, an dem auch die Sowjetunion beteiligt war, ausmacht, dem Westen – eine freie demokratische Gesellschaft. Das wird auch zu wenig betont. Das sind alles Werte, die vom Westen kommen und für uns Identifikationsbestandteil unserer Kultur geworden sind.

STANDARD: Ist die FPÖ eine Russland-freundliche Partei?

Nehammer: Sie ist auf jeden Fall eine Kreml-Versteher-Partei. Sie verwendet ausschließlich die Diktion des Kreml, wenn es um die Beschreibung des Ukraine-Konflikts geht. Sie hat als Partei einen Freundschaftsvertrag mit der Partei des russischen Präsidenten. Diese Umstände werden auch von der internationalen Staatengemeinschaft und den USA sehr kritisch beobachtet. (Petra Stuiber, Hans Rauscher, 30.1.2024)