Engel neben Salami
Beliebte Glaubenssätze wie "Fleisch ist böse", "Gluten ist giftig", oder "verarbeitete Lebensmittel machen krank" ignorieren, dass diese Überzeugungen nicht immer mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft übereinstimmen.
Illustration: Standard / Lukas Friesenbichler; Fotos: Getty

Der Veganuary ist vorbei – und für diejenigen, die an der Challenge, einen Monat keine tierischen Produkte zu essen, teilgenommen haben, heißt das: Man darf wieder. Fleisch essen, Milch trinken, Honig schlecken.

Für viele ist die Beschäftigung mit der eigenen Ernährung inzwischen Dauerprogramm. Es geht längst um mehr als die Frage, ob man Fleisch isst oder nur Pflanzen. Social-Media-Feeds sind vollgestopft mit Essen und Ernährungstipps, Regeln dafür, was erlaubt und was verboten ist, wie man mit der richtigen Ernährung schlank, jung und schön bleibt. Es entsteht das Gefühl, so manche Diäten und Ernährungsweisen sind mittlerweile zu richtigen Glaubenssystemen geworden.

Völlerei

Tatsächlich gab es immer schon eine enge Verbindung zwischen Glaube und Ernährung: Muslime und Juden essen kein Schwein, Letztere trennen Milch und Fleisch, Hindus verzichten auf Rind, manche generell auf Fleisch. Mäßigung oder gar Askese gelten oft als tugendhaft, Maßlosigkeit beäugt man dagegen mit Argwohn. Völlerei zählt zu den sieben Todsünden, schon Dante hat in seiner Göttlichen Komödie die Gefräßigen im dritten Kreis der Hölle verortet.

Von dieser religiösen Verbindung löst sich das Thema Essen aber zunehmend – und wird selbst zu einer Art Pseudoreligion, sagen manche. Doch was macht eine Religion konkret aus? Und kann man deren Kriterien wirklich auf das Essen umlegen? Wir haben wesentliche Säulen analysiert.

Das Glaubenssystem

Gemein ist den vielen Ernährungsweisen oder genauer gesagt Diätformen, dass sie sich auf feste Glaubenssätze berufen: Fleisch ist böse, Gluten ist giftig, oder verarbeitete Lebensmittel machen krank. Dabei wird oft ignoriert, dass diese Überzeugungen nicht immer mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft übereinstimmen.

Wenn es um die Umwelt- und Klimaauswirkungen der Ernährung geht, ist die Faktenlage noch ziemlich klar: Tierische Produkte verursachen in der Produktion besonders viele CO2-Emissionen, verbrauchen einen Großteil der landwirtschaftlichen Fläche, sind energieintensiv und beschleunigen tendenziell das Artensterben – wobei vor allem Rindfleisch einen besonders großen CO2-Fußabdruck hat. Wer auf Fleisch, Milch und Eier verzichtet, senkt zudem die Nachfrage für diese Produkte, die oft mit Tierleid verbunden sind.

Widersprüchliche Forschungsergebnisse

Wesentlich schwieriger wird es, wenn es um die Gesundheit geht. Wissenschaftliche Erkenntnisse rund um Ernährung sind nicht eindeutig – und teils sogar widersprüchlich. "Jegliche Erkenntnis, die man in der Forschung dazu hat, basiert auf Korrelation, es gibt keine kausalen Zusammenhänge", sagt Uwe Knop. Der Ernährungswissenschafter und Publizist ist spezialisiert auf die Analyse ernährungswissenschaftlicher Studien. "Sobald aber der Glaube dominiert, sind wir mitten drin im pseudoreligiösen Bereich. Da herrscht viel Emotion, und es geht schnell einmal heiß her in Diskussionen."

Und noch eine Parallele sieht Knop zum Glauben: "Alle definierten Ernährungsweisen verzichten auf etwas." Das können Kohlenhydrate sein, Zucker, tierische Produkte oder künstliche Zusatzstoffe. "Indem man bestimmte Zutaten ausschließt und diesen Verzicht als etwas Positives darstellt, kann man sich natürlich wunderbar profilieren."

Kai Funkschmidt vom Konfessionskundlichen Institut Bensheim befasst sich aus theologischer Sicht mit aktuellen Ernährungsströmungen, in denen auch er "pseudoreligiöse" Züge sieht. Religion per se ist für den Theologen natürlich nichts Negatives. "Doch in den Heilsversprechen stecken oft Antworten auf existenzielle Fragen, die auf diese Weise nicht beantwortet werden können", sagt Funkschmidt, etwa die Sinnfrage oder jene nach der Imperfektion des Menschen.

Die Propheten

Die gefühlten Ernährungswahrheiten werden oft von selbsternannten Ernährungsexpertinnen und -experten in die Welt gesetzt und propagiert. Einfache Lösungen sollen das Leibes- und Seelenwohl bringen – vielfach sogar heruntergebrochen auf einige wenige "Superfoods" mit geradezu magischen Eigenschaften.

Diese Herangehensweise ist übrigens nicht neu, es gibt unzählige Beispiele. Bereits in den 1940er-Jahren entwickelte etwa der US-amerikanische Heilpraktiker Stanley Burroughs die Master-Cleanse-Diät. Ursprünglich sollte sie gegen Magengeschwüre helfen, wurde dann aber als Abnehmprogramm beworben. Das einfache Rezept: Zehn Tage lang ernährt man sich von ein paar Spritzern Zitronensaft, vermengt mit Ahornsirup, Cayennepfeffer und Wasser. Obwohl die angebliche Gesundheitswirkung des Zitronensaft-Detox längst widerlegt wurde, kursiert es immer noch in Gesundheitsblogs.

Der blinde Gehorsam gegenüber Ernährungsgurus kann dabei sogar gefährlich werden. Mario Pianesi lullte Zehntausende mit den Heilsversprechen seiner Makrobiotik-Diät ein, einige seiner Anhänger soll er in die Mangelernährung getrieben und persönlich ausgebeutet haben.

Schnitzel
Das Schnitzerl in der Mittagspause wird zu einer Entscheidung zwischen Gusto oder Gruppenzwang.
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Meistens geht es ums Geld

Das sind freilich Extremfälle. Die großen Gurus sind nicht mehr so präsent, heute ist der Einfluss subtiler, über Influencer und suggestive Werbung. Doch egal, was einem reingespült wird, man sollte es immer hinterfragen, sagt Knop. "Soll da etwas verkauft werden, wie Bücher oder Nahrungsergänzungsmittel? Dann geht es meistens ums Geld."

Viele Ernährungsweisen und Diäten drehen sich um Essen als Ritual, das richtiggehend zelebriert wird: Beim Intervallfasten wird exakt nach Timer gegessen – oder eben nicht. Andere zählen, wie oft sie kauen oder tracken Kalorien und Nährwerte per App.

Essen als Ritual anzusehen ist dabei nicht per se schlecht. "Lebensmittel sind generell emotional aufgeladen", weiß Ernährungspsychologin Irene Niedermayer. "Man will alles richtig machen." Aber dadurch orientiere man sich womöglich zu sehr an anderen oder an Vorgaben, die für einen selbst gar nicht passen. "Untersuchungen zeigen etwa, dass in Bürokantinen Menschen darauf schauen, was die Führungskräfte essen. Setzt da womöglich jemand auf reduzierte Kost, fühlen sich manche bemüßigt, auch zum Salat zu greifen."

Zwischen Gusto und Gruppenzwang

Unbewusst entsteht dann nämlich das Gefühl, man mache etwas falsch, wenn man selbst Lust auf ein Schnitzel hat. Anstatt entspannt dem eigenen Gusto zu folgen, kann der Eindruck eines Gruppenzwangs entstehen. Nicht nur in der Kantine – das kann auch passieren, wenn im Umfeld jemand auf vegan umstellt oder Ähnliches. Weil man aber nichts falsch machen will, fühlt man sich infrage gestellt. "Manche versuchen dann, ihren Selbstwert aufrechtzuerhalten, indem sie die Ernährungsweise der anderen abwerten oder lächerlich machen", sagt Niedermayer.

Der Schlüssel zur bewussten Ernährung sei aber, auf den eigenen Körper zu hören, betont Niedermayer: "Man muss nicht alles aufzuzeichnen. Der Körper gibt uns eigentlich ganz gute Signale, was er braucht oder was ihm guttut." Diese Signale zu erkennen müsse man aber ein Stück weit neu lernen.

So könnte man es sich etwa zum Ritual machen, mehrmals täglich bewusst in sich hineinzuspüren und das eigene Hungergefühl zu ergründen. "Wenn ich wirklich darauf vertraue, dass ich die Weisheit in mir trage, brauche ich dafür gar keinen Guru."

Sünde und Buße

Wer nach genauen Regeln lebt, bricht sie hin und wieder. Oft stellen sich danach Versagens- und Schuldgefühle ein, es folgen selbst auferlegte Strafen. Im Übrigen ein Indikator für Orthorexie – die besessene Beschäftigung mit gesundem Essen.

Menschen könnten nach einem Verstoß gegen die eigenen Regeln zudem in eine "Eh-schon-wurscht-Spirale" verfallen, sagt Niedermayer. Nach einem Bissen vom verbotenen Lebensmittel sehen manche die Grenze ohnehin überschritten – und stürzen sich in einen regelrechten Rausch verpönter Genüsse. Darauf folgen oft Schuldgefühle, und für die verbotene Völlerei wird mit noch härteren Regeln gebüßt. "So kommt man in einen Teufelskreis aus Ernährungsregime und Scheitern", erklärt die Ernährungspsychologin.

Die Folgen scheinen das eigene Scheitern zu bestätigen. Doch fast alle Menschen haben ein bis drei Jahre nach einer Diätphase ihr Ausgangsgewicht wieder erreicht oder sogar überschritten, das zeigen Studien. In Wirklichkeit sei es nur der Beweis dafür, dass Dogmen nichts bringen.

Theologe Funkschmidt sieht in solcher Selbstbuße einen gravierenden Unterschied zu klassischen Religionen. "Zum Christentum gehört der Gedanke: Du bist okay, auch wenn du nicht perfekt bist", sagt er. Das fehle den säkularen Heilsversprechen. "Dort kann man nur das Heil erlangen, indem man die Lehre möglichst rein verwirklicht."

Engel und Essen
Weil Vorstellungen fest verankert sind, fühlen sich Menschen schnell in ihren Grundfesten bedroht, wenn ihre Vorstellung von Ernährung infrage gestellt oder vermeintlich bedroht wird.
Illustration: Standard / Lukas Friesenbichler; Fotos: Getty

Missionierung

Weil Vorstellungen so fest verankert sind, fühlen sich Menschen auch schnell in ihren Grundfesten bedroht, wenn ihre Vorstellung von Ernährung infrage gestellt oder vermeintlich bedroht wird. "Da ist es dann egal, ob man jeden Tag Fleisch isst oder Tiere und Klima schützen will – die Abwehrreflexe sind die gleichen", sagt Knop. "Das gilt auch für die Angst, dass irgendwann die Übermacht derjenigen kommt, die alles verbieten wollen, was doch so gut schmeckt."

Letztere Erzählung hat es auch in die Politik geschafft: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) etwa ortete bereits eine "Ökodiktatur" samt "zwanghafter Veganisierung Deutschlands", als in einer unveröffentlichten Version einer Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung von zehn Gramm Fleisch täglich zu lesen war. Auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) betonte im Sommer mehrmals, dass es okay sein müsse, Schnitzel zu essen – und machte das österreichische Nationalgericht so zum politischen Kampfbegriff.

Denn mit Essen kann man sich bestens abgrenzen. "Ich esse dies, aber das nicht" zeigt auch, wo man weltanschaulich steht. "Entscheidet man sich für eine bestimmte kulinarische Lebensweise, sei das nun Low Carb, Veganismus oder auch die große Fleischeslust, will man auch, dass das das Richtige ist", sagt Knop. Je präsenter dieser Gedanke werde, desto stärker lehne man andere Vorstellungen ab. "Das kann eine richtiggehende kulinarische Diaspora werden."

Auf den Körper hören

Am Ende gibt es weder Kausalität noch Evidenz, was die richtige Ernährungsweise ist. "Der einzig relevante Taktgeber in Bezug auf die Ernährung ist der eigene Körper. Fühle ich mich wohl mit dem, was ich esse? Tut es mir gut? Dann passt alles. Oder habe ich ein Völlegefühl, Blähungen, Bauchschmerzen? Dann muss ich etwas ändern", sagt Knop.

Dazu kommt die emotionale Komponente. Warum esse ich wirklich? Tatsächlich aus Hunger? Oder aus Langeweile, Frust, Angst, Kummer, Gewohnheit? Im Grunde gibt es so viele richtige Ernährungsweisen, wie es Menschen gibt. Denn jeder Körper ist individuell und anders. "Das sind die Parameter, die zählen. Alles andere gehört in den Bereich des Glaubens. Und je weiter man vom eigenen Körpergefühl wegdriftet in Richtung Dogma, desto gefährlicher für Körper und Geist kann es werden." (Pia Kruckenhauser, Philip Pramer, 3.2.2024)