Tinnitus
Lemmy Kilmister von Motörhead (1945–2015), hier bei einem seiner letzten Auftritte in seinem Todesjahr, ging mit Mörderlautstärke und Hörschaden recht offensiv und unbelehrbar um: "Deaf forever!"
imago/PanoramiC

Die Meldung kam vor einigen Tagen und im Musikgeschäft nicht ganz überraschend. Es handelt sich um eine weitverbreitete Berufskrankheit. Der Wiener Rapper RAF Camora verkündete über Social Media, dass er seine anstehende Tournee auf Ende des Jahres verschieben müsse, da er schon seit Monaten an einem starken Tinnitus und wiederkehrendem Hörsturz leide. Die Situation sei für ihn als Musiker beängstigend. Oft wache er nachts von dem Hörsturz auf und höre auch tagsüber nichts mehr außer einen hohen Pfeifton.

Hörsturz, Tinnitus und Hörschaden sind drei Diagnosen, mit denen viele Musiker und Musikerinnen geschlagen sind. Man leidet nicht nur an Taubheit, sondern vielfach auch an Gleichgewichtsstörungen und Schwindelgefühlen. Es handelt sich um ein berufsbedingtes und kaum kalkulierbares Risiko, wobei nur der Hörsturz als heilbar gilt. Die Ursachen können mannigfaltig sein. Sie reichen von Stress, Verspannungen, hohem Blutdruck bis zu akustischer Dauerüberlastung und Knalltrauma.

Wer meint, nur elektrisch verstärkte Pop- und Rockmusik sei die hauptsächliche Gefahrenquelle, wird seine Meinung ändern müssen, wenn er mit Orchestermitgliedern aus der Klassik spricht. In einer Studie der Universität Oldenburg gibt ein Viertel von 350 Befragten an, unter Tinnitus zu leiden. In der Normalbevölkerung wird die Tinnitusrate aufgrund akustischen Smogs im städtischen Ballungsbereich, im Beruf, im Verkehr sowie in der Freizeit mit Kopfhörern, Clubs und Konzerten dank Dauerbeschallung auf stolze zehn bis 15 Prozent veranschlagt.

Zur Veranschaulichung: Musik mit Kopfhörern wird oft zwischen 70 und 100 Dezibel gehört, in Clubs beträgt der Schallpegel typischerweise 93 bis 100 dB(A), und auf Konzerten ist es meist 100 dB(A) und mehr laut. Für die Ohren wird es allerdings bereits ab 85 dB(A) kritisch. Deshalb müssen ab letzterem Wert Arbeitgeber etwa in Deutschland dafür Sorge tragen, dass Arbeitnehmer einen Gehörschutz tragen. Ab diesem Wert drohen bei dauerhafter Belastung Hörschäden.

Musik als körperliche Erfahrung

Wo etwa in Fabrikhallen, zumindest in unseren Breiten, längst mit Lärmschutz gearbeitet wird – immerhin waren laut Untersuchungen in Großbritannien noch vor einigen Jahrzehnten so gut wie alle Beschäftigten schwer beeinträchtigt beziehungsweise so gut wie taub –, sieht es in der Musik grundlegend anders aus. Kaum sichtbare, individuell angepasste Gehörschutzgeräte im Ohr können dank Filtertechnik zwar die Lautstärke eindämmen und eine weitere berufsbedingte Verschlechterung der Hörfähigkeit zumindest verlangsamen oder gar verhindern. Damit können langfristig auch Folgekrankheiten wie Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen vermieden werden. Musizierende beklagen allerdings oft, mit Hörschutzgeräten einen verstörenden Verlust der räumlichen Tiefe zu erleben, ohne die es in der Aufführungspraxis nicht geht.

Zwar werden heutzutage aus Gründen des Anrainer- und Publikumsschutzes die Soundanlagen von Clubs und Konzertsälen behördlich gern limitiert. Fakt ist allerdings, dass in der Geschichte des elektrischen Stroms vom Blues über Rock 'n' Roll, Rock, Pop, Metal, Disco, Punk bis herauf zu Techno immer auch eines dazugehörte – die Energie, Kraft, Aufruhr und Ekstase verheißende Lautstärke als zentrales stilistisches Element. Musik muss körperlich erfahren werden.

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Offiziell begonnen hat das alles möglicherweise im Jahr 1965. Damals war auf dem Albumcover der Paul Butterfield Blues Band zu lesen: "We suggest that you play this record at the highest possible volume in order to fully appreciate the sound of the Paul Butterfield Blues Band." 1969 rieten dann auch die Rolling Stones auf Let It Bleed: "This record should be played loud." Motörhead ("Deaf Forever!"), The Who, AC/DC und Generationen von Unbelehrbaren folgten in Worten und Taten. Sogar die sensible britische Popmusikerin Kate Bush riet ihren Fans 1982 auf The Dreaming: "This album was made to be played loud."

Hörgerät statt Hörschutz

Stereoanlagen, Boxentürme und heute extrem leistungsfähige Kopfhörer und Ear-Plugs taten das übrige, um die Live-Lautstärke auch nach Hause zu tragen und für Gehörschäden zu sorgen. Noch heute kann es einem nach Konzerten von mit akustischer Überwältigung arbeitenden US-Bands wie Swans oder SunnO))) passieren, dass das Gehör ein, zwei Tage auf einer dicken Schicht aus Schaumstoff gebettet liegt und im Kopf ein Pfeifen umgeht. SunnO))) haben ein Motto: "Maximale Lautstärke ergibt maximale Ergebnisse." Ob die Musiker unter ihren Mönchskutten auf der Bühne Gehörschutz tragen, wird man wohl nie erfahren.

Wie weitverbreitet vor allem der Tinnitus im Pop und Rock ist? Es gibt keine gültigen Untersuchungen. Der Anteil der Betroffenen dürfte 20 bis 25 Prozent betragen, wenn man von diversen nicht repräsentativen Umfragen ausgeht. Berühmte Leidende sind speziell Männer: Lemmy von Motörhead, Ozzy Osbourne, Eric Clapton, Sting, Phil Collins, Neil Young, Pete Townshend oder Lars Ulrich von Metallica. Brian Johnson von AC/DC musste zwischen 2016 und 2023 pausieren, da ihm sonst völlige Taubheit drohte. Heute trägt er keinen Hörschutz, sondern ein Hörgerät. (Christian Schachinger, 5.2.2024)