Die allgemeine Zufriedenheit über das Scheitern der Blockade der EU-Hilfe für die Ukraine durch die Erpressungstaktik Viktor Orbáns darf nicht über die Verschlechterung der politischen und militärischen Lage des seit fast zwei Jahren gegen die russische Übermacht kämpfenden Landes hinwegtäuschen. Vor dem Gipfeltreffen sagte Donald Tusk, der polnische Ministerpräsident, es gebe "keine Ukraine-Müdigkeit, sondern eine Orbán-Müdigkeit". Dieser Satz dürfte die Stimmung gegen "Russlands Brückenkopf in der EU" (FAZ, 5. 2.) widerspiegeln. Zugleich ist er aber nur die halbe Wahrheit: Man kann nämlich auch einen fortschreitenden Rückgang der Aufmerksamkeit der Medien für den russischen Aggressionskrieg beobachten.

Polens Ministerpräsident Donald Tusk
Wenn die EU der Ukraine nicht helfe, würden alle das zu spüren bekommen, warnte Polens Ministerpräsident Donald Tusk vergangene Woche beim Gipfel in Brüssel.
EPA/LESZEK SZYMANSKI

Für die weltpolitische Entwicklung seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober gilt die Feststellung des großen Basler Historikers Jacob Burckhardt (1818–1897): "Wenn zwei Krisen sich kreuzen, so frisst momentan die stärkere sich durch die schwächere hindurch." Infolge der Flucht nach vorn durch Benjamin Netanjahu, um sich vor dem Sturz und dem Korruptionsprozess zu retten, wächst nicht nur die Kriegsgefahr im Nahen Osten. Die Verschlechterung der Wahlchancen des US-Präsidenten Joe Biden wegen seines proisraelischen Kurses, der Vorrang der Suche nach einer Entspannung im Nahen Osten und die Sackgasse bei den Verhandlungen im US-Kongress über die Finanz- und Rüstungshilfe für die Ukraine beeinflussen direkt und indirekt das Schicksal des um das nationale Überleben kämpfenden Landes.

Da die Verteidigungsausgaben rund die Hälfte des Budgets ausmachen, ist die Hilfe des Westens lebenswichtig. Das Land braucht allein in diesem Jahr fast 40 Milliarden Euro. Bisher haben die Vereinigten Staaten mehr Finanz- und Rüstungshilfe gewährt als alle Staaten der EU zusammen. Es besteht aber jetzt die reale Gefahr, dass die republikanische Mehrheit im US-amerikanischen Kongress aus wahltaktischen Überlegungen und angestachelt von Donald Trump die Ukraine letzten Endes in Stich lassen könnte. Damit würde die Kiewer Regierung auf jene Rüstungssysteme verzichten müssen, die nur die USA liefern können.

Obwohl laut US-amerikanischen Schätzungen 315.000 russische Soldaten getötet oder verwundet wurden, droht Ex-Präsident Dmitri Medwedew mit "ewigem Krieg, bis die Ukraine besiegt wird". Die russischen Verteidigungsausgaben sollen heuer auf 109 Milliarden Euro verdoppelt werden und fast ein Drittel der Budgetausgaben betragen. Wladimir Putins Diktatur erstickt jeden Widerstand im Keim.

Der heldenhafte ukrainische Widerstand soll nicht nur rhetorisch gewürdigt, sondern auch rechtzeitig und massiv unterstützt werden. Das ganze Hilfspaket würde heuer bloß 0,25 Prozent des gesamten BIP der EU, Großbritanniens und der USA ausmachen. Zugleich wächst der von angesehenen Experten unterstützte Druck, das in der EU eingefrorene russische Staatsvermögen im Wert von 200 Milliarden Euro an die angegriffene und von russischen Bomben und Raketen so stark beschädigte Ukraine zu übertragen. (Paul Lendvai, 5.2.2024)