Autorin Mely Kiyak, 1976 als Tochter eines kurdischen Gastarbeiters aus der Türkei im deutschen Solingen geboren.
Autorin Mely Kiyak, 1976 als Tochter eines kurdischen Gastarbeiters aus der Türkei im deutschen Solingen geboren. "Mein Vater und ich, das sind zwei Länder. Er dort und ich hier", schreibt sie.
Svenja Trierscheid

Wie verhält man sich, wenn ein Elternteil stirbt? "Mein Vater stirbt und ich weiß nicht, wie das geht", muss Mely Kiyak Ende der Nullerjahre feststellen. Sie hat es sich deshalb neuerdings angewöhnt, in den Himmel zu schauen, als ob von dort eine Antwort auf solche Fragen käme. Gerade erst hatte ihr Vater sich von seiner Frau, ihrer Mutter, scheiden lassen, seine Wohnung in Deutschland ist aufgelöst, und in der Türkei, wo er seine Pension verbringen will, wartet seine neue "Liebste". Da muss er den Hinflug wegen einer befürchteten Lungenentzündung verschieben, die Untersuchungen ergeben aber – und davon handelt Kiyaks soeben erschienenes Buch Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an –, es ist Lungenkrebs.

15 Jahre lang war Mely Kiyak als politische Kolumnistin zum Themenbereich Migration und Integration für die Zeit und die Taz, die Welt und das Berliner Maxim-Gorki-Theater tätig. Zuletzt sind unter großem Beifall der Sammelband Werden sie uns mit Flixbus deportieren? (2022) und die essayistischen Beobachtungen und Überlegungen Frausein (2020) erschienen. Seit letztem Jahr ist mit den Kolumnen Schluss.

Nicht weil die deutsche Gesellschaft keine mehr nötig hätte. Aber sie zweifle komplett an deren Sinn, sagte Kiyak soeben der Taz, das Format politische Kolumne erschöpfe sich in einer Welt, die zunehmend aus Wiederholungen bestehe.

Die Kraft von Geschichten

Was also stattdessen? Nicht zweifle sie "am Sinn einer gut erzählten Geschichte", solcher wolle sie sich in Form der Literatur fortan stärker widmen.

Der Neustart beginnt mit einem Rückgriff, eine solche Geschichte liegt mit Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an nämlich vor. Erschienen ist das Buch zwar bereits 2013, Kiyaks nunmehriger Verlag Hanser hat es aber von der Autorin "stark bearbeitet" neu aufgelegt. Sie seien "zwei Texte, aber ein Erzählkörper", sagt Kiyak über Herr Kiyak ... und den Hit Frausein.

Aktualität gibt dem Roman auch, dass bei Kiyak selbst während der Corona-Zeit eine schwere Krankheit diagnostiziert wurde. Diese hat sie nun überstanden, spezifizieren möchte sie sie aber nicht. Im Schweizer Onlinemagazin Republik hat sie voriges Jahr jedoch die Kolumnenserie Meine Testamente dazu verfasst.

Feinnervig wie diese Kolumnen ist auch das Buch, das mit dem Satz "Mein Vater geht wie eine betrunkene Ballerina" anhebt. Dieser Ton, der eine sanfte Ehrlichkeit mit enthüllendem Witz und Poesie mischt, kann binnen eines Wimpernschlags politisch werden. Denn ihr Vater ist als Gastarbeiter gekommen, hat sein halbes Leben in einem Lackierwerk gearbeitet, sonntags Nachtdienst geschoben "ohne je Anerkennung dafür bekommen zu haben".

Oje, Krankenhausessen

Die Krankengeschichte (in der es lange nur abwärtsgeht), die von Fremdheitsgefühl geprägte Gastarbeiterbiografie ("Als vor sechzig Jahren Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kamen und Telefongespräche teuer waren, besprach man Kassetten und gab sie Reisenden in die Türkei mit") und noch die Familiengeschichte väterlicherseits (Räubersippe! Blutfehde!) im Kontext der türkischen Politverhältnisse im 20. Jahrhundert (der religiöse Backlash nach Atatürk und die Benachteiligung der Kurden, zu denen Kiyaks Familie angehört) finden auf nur 220 Seiten zueinander.

Einst zogen die in Deutschland geborenen Sprösslinge den Vater, einen sanften Mann mit Humor und einer festen Essensroutine je nach Jahreszeit (das deutsche Krankenhausessen bekrittelt Kiyak ebenso wie die Hilfsbereitschaft der Krankenschwestern), damit auf, dass er beim Deutschsprechen "über die Silben" fiel. Jetzt fürchtet Kiyak bei jedem Sarg, den sie in den kommenden Wochen im Krankenhaus sieht, es liege der Vater darin. Und dazu ihre Flugangst: Was macht sie nur, wenn er stirbt, und in der Türkei beerdigt werden will?!

Kiyak kann Pointen und schnelle Querverbindungen vom Kolumnenschreiben und weiß, wie sie das individuell Tragische allgemeiner schwingen lässt. Die kurdischen Totenrituale durften glücklicherweise warten. Ihr Vater hat überlebt. (Michael Wurmitzer, 6.2.2024)