Selbst für Beobachterinnen und Beobachter war die Nachricht eine Überraschung: Die ukrainische Nationalbank hatte die finanzielle Situation des Landes in den ersten Monaten nach dem Angriff Russlands stabilisiert – und dennoch musste ihr Präsident, Kyrylo Schewtschenko, Anfang Oktober 2022 von einem Tag auf den anderen zurücktreten. Aufgrund "gesundheitlicher Probleme", wie er damals in einem knappen Posting auf Facebook mitteilte.

Die ganze Wahrheit dürfte das nicht gewesen sein: Wenige Wochen später schrieb die ukrainische Antikorruptionsbehörde Nabu Ex-Gouverneur Schewtschenko zur Fahndung aus. In einer seiner früheren Rollen als Manager bei der Ukrgasbank soll der Ukrainer gemeinsam mit weiteren Mitarbeitern rund 5,5 Millionen Euro veruntreut haben. Schewtschenko bestritt die Vorwürfe vehement und sprach von "politischer Verfolgung". Jetzt, mehr als ein Jahr danach, müssen sich auch die österreichischen Ermittlungsbehörden mit dem Fall beschäftigen.

Kyrylo Schewtschenko
Kyrylo Schewtschenko trat wenige Monate nach Kriegsbeginn überraschend als Chef der Nationalbank zurück.
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Flucht nach Österreich

Schewtschenko war bereits im September 2022, einen Monat vor seinem offiziellen Rücktritt, aus der Ukraine geflüchtet. Kurz danach suchte er um Asyl in Österreich an, wo er sich nach wie vor aufhält. Die Ukraine stellte zwar einen Antrag auf Auslieferung, die österreichischen Gerichte lehnten dies jedoch ab: Eine Überstellung Schewtschenkos an die Ukraine sei derzeit schon allein aufgrund des dortigen Kriegszustands nicht möglich, so das Argument der Behörden und Gerichte.

Inhaltlich prüfen mussten sie die Korruptionsvorwürfe zunächst nicht – doch das ändert sich nun. Die Taten, die Schewtschenko in der Ukraine vorgeworfen werden, sind nämlich auch hierzulande strafbar. Wie der STANDARD erfahren hat, führt die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) mittlerweile ein Ermittlungsverfahren wegen Untreue gegen den Ukrainer und weitere Beschuldigte. Gleichzeitig liegt dessen Asylantrag weiterhin beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA).

Für die Behörden ist die Konstellation eine Herausforderung: Wie sollen sie herausfinden, ob die Vorwürfe ihrer ukrainischen Kollegen berechtigt oder tatsächlich konstruiert sind? Ob Schewtschenko Anspruch auf Asyl hat oder eines Tages doch noch ausgeliefert werden muss?

"Druck aus dem Präsidialamt"

Aus Schewtschenkos Sicht sprechen die Fakten für ihn: Es liege eine "klassische politische Verfolgung" vor, erklärt er im Gespräch mit dem STANDARD. Den Grund dafür sieht er in seiner Politik als Nationalbankchef: Als das Staatsbudget nach Ausbruch des Krieges knapp wurde, habe das Präsidialamt unter Wolodymyr Selenskyj Druck auf ihn ausgeübt, er solle den Leitzins senken und mehr Geld in Umlauf bringen. Schewtschenko habe sich geweigert, um die grassierende Inflation nicht weiter anzuheizen und die schwächelnde ukrainische Währung nicht zusätzlich abzuwerten.

Für Unverständnis sorgt bei dem Ukrainer auch der zeitliche Ablauf: Vor seinem Antritt als Chef der Nationalbank sei er komplett durchleuchtet worden. Um ihn loszuwerden, hätten seine Gegner dann einen alten Fall aus seiner Zeit bei der Ukrgasbank ausgegraben und wiederbelebt. Wenige Tage vor der Verdachtsmeldung seien auch noch die ermittelnden Staatsanwälte ausgetauscht worden. "All diese Vorwürfe sind konstruiert", erklärt Schewtschenko. "Das ist dieselbe Praxis, die Putin gegen seine eigenen Leute anwendet. Man will öffentlich demonstrieren, was mit Ungehorsamen passiert."

Ukrainische Nationalbank
Die ukrainische Nationalbank soll finanzielle Stabilität gewährleisten. Über den geldpolitischen Kurs hat es nach dem Angriff Russlands Uneinigkeit gegeben, sagt Schewtschenko.
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"Kein rechtsstaatliches Verfahren"

In der Ukraine erwarte ihn kein rechtsstaatliches Verfahren, es seien grundlegende Verfahrensrechte verletzt worden. So habe er im Laufe des Strafverfahrens vergeblich dutzende Anträge gestellt, etwa auf die Onlineteilnahme an Gerichtssitzungen. Unterstützt sieht er sich auch durch ein Gutachten der ukrainischen NGO Kharkiv Human Rights Protection Group, die Hinweise auf eine politische Verfolgung gefunden haben soll. Im Gegensatz zur Ukraine sei er sich in Österreich sicher, dass er von den Behörden gerecht behandelt werde, sagt Schewtschenko.

Doch wie die österreichischen Behörden nun genau vorgehen sollen, ist fraglich. Die WKStA gibt zu dem nichtöffentlichen Verfahren keine Auskunft, verweist aber darauf, dass man in derartigen Fällen über Rechtshilfeansuchen arbeite. Abgesehen von einer Befragung Schewtschenkos kann die Behörde die ukrainische Staatsanwaltschaft also um Hilfe bitten und Anträge stellen – etwa für die Übermittlung von Akten oder die Einvernahme von Zeugen. Freilich würden sich diese Anträge just an jene Staatsanwältinnen und Staatsanwälte richten, denen Schewtschenko politische Verfolgung vorwirft.

Von der ukrainischen Korruptionsbehörde Nabu bekam der STANDARD dazu keine Rückmeldung.

Herkulesaufgabe für Behörden

Vor ähnlichen Problemen wie die Korruptionsstaatsanwaltschaft steht das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, das den Asylantrag Schewtschenkos nach wie vor prüft. Auf Anfrage heißt es von dort ebenso allgemein, dass man in jedem einzelnen Fall ein "umfassendes Ermittlungsverfahren" durchführe, um "sämtliche relevanten Informationen für die Entscheidungsfindung einzuholen". Dabei werden auch die Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation berücksichtigt, die die Lage in den Herkunftsländern genau beobachte und dokumentiere.

Am Ende des Tages ist der Spielraum der österreichischen Behörden wohl eher eingeschränkt. Ob sie auf dieser Grundlage fundierte Entscheidungen treffen können, darf man zumindest hinterfragen. Dazu kommt eine politische Komponente: Genehmigt Österreich den Asylantrag, käme das einer Verurteilung der Ukraine gleich. Mit einem raschen Ergebnis ist also eher nicht zu rechnen – weder im Asylverfahren noch im Ermittlungsverfahren. Aufgrund des Kriegszustands in der Ukraine darf Schewtschenko vorerst aber so oder so weiterhin in Österreich bleiben – selbst wenn die Behörden einfach gar keine Entscheidung fällen. (Jakob Pflügl, 6.2.2024)