Orcas von Eis umschlossen
Die am Dienstag vom Meereis eingeschlossenen Schwertwale könnten mittlerweile aus ihrem Gefängnis entkommen sein, vermuten die japanischen Behörden.
Seiichiro Tsuchiya/ Wild Life Pro, LLC

Vor der japanischen Küste bahnte sich in den vergangenen Tagen für eine Gruppe von Orcas ein trauriges Schicksal an: Gut ein Dutzend Wale waren vor der Insel Hokkaido im Norden Japans von Treibeis eingeschlossen worden. Allein ein kaum zehn Quadratmeter großes Loch war den Tieren zum Luftholen geblieben. Da die Treibeisschollen aktuell bis zum fernen offenen Meer eine annähernd geschlossene Decke bilden, konnten die Schwertwale nirgends mehr hin. Doch nun gibt es Hoffnung, dass es die kleine Gruppe doch noch geschafft hat: Bei einem Kontrollflug fand man keine Spur mehr von den Orcas.

Nach Luft schnappen

Normalerweise kommen ausgewachsene Orcas alle drei bis fünf Minuten zum Atmen an die Wasseroberfläche, doch können sie, wenn es die Umstände erfordern, auch schon einmal 15 Minuten am Stück untertauchen. Dass dies den gestressten, ausgelaugten Tieren vor Hokkaido ebenfalls gelingen könnte, hielten Fachleute jedoch für unwahrscheinlich. Drohnenaufnahmen des Meeresforschers Seiichiro Tsuchiya von der Organisation Wild Life Pro vom Dienstag zeigten, wie sich die Tiere in dem engen Loch im Eis zusammendrängen und beim Luftholen abwechselten; auch einige Jungtiere waren darunter zu erkennen.

Die Stelle liegt gut einen Kilometer vor der Küstenstadt Rausu auf der Halbinsel Shiretoko. Wie Vertreter der Stadt erklärt hatten, habe es das dicke Eis der Küstenwache unmöglich gemacht, die Meeressäuger zu befreien. Problematisch seien insbesondere der Kälteeinbruch und die anhaltende Windstille, die die Eismassen an Ort und Stelle festhalten. "Wir haben keine andere Wahl, als darauf zu warten, dass das Eis wieder aufbricht und sie auf diese Weise entkommen können", sagte ein Beamter aus Rausu gegenüber dem japanischen Sender NHK (Nippon Hōsō Kyōkai).

Kein Eisbrecher

Japanischen Medienberichten zufolge hatte ein Fischer die zuständige Küstenwache am Dienstagmorgen (Ortszeit) über die Entdeckung der Orcas informiert. Tsuchiya war gerade dabei gewesen, mit seiner Drohne die lokale Seelöwenpopulation zu beobachten, und schickte sein Fluggerät zu der angegebenen Stelle.

"Ich sah etwa 13 Schwertwale, deren Köpfe aus einem Loch im Eis ragten", sagte er gegenüber NHK. "Sie schienen nach Luft zu ringen, und es sah so aus, als ob drei oder vier Kälber dabei waren." Ein paar der Orcas hatten auch blutende Stellen an ihren Unterkiefern. Tsuchiya vermutete, dass sie sich am Eis verletzt haben.

Die Aufnahmen im japanischen Fernsehen führten zu Forderungen von Umweltschutzgruppen nach staatlicher Unterstützung bei der Befreiung der Tiere. Eine Gruppe regte bei der japanischen Regierung sogar an, einen Eisbrecher zu schicken. Doch dafür sei der Meeresboden an dieser Stelle nicht tief genug, hieß es.

Vielleicht haben sich Lücken geöffnet

Letztlich blieb den Fachleuten, Tierschützern und Behörden nur, die Gruppe in regelmäßigen Abständen zu kontrollieren. Doch am Mittwoch änderte sich die Situation. Ein Vertreter der Stadt Rausu erklärte, ihr letzter Überwachungsflug habe gezeigt, dass sich die Wale offenbar aus dem Gebiet entfernt hätten.

Ein von der Stadt beauftragtes Team hatte am Mittwochmorgen etwa anderthalb Stunden lang nach den Orcas gesucht, doch keine Spur mehr von ihnen gefunden. Man gehe daher davon aus, dass die Wale entkommen konnten. Der Optimismus gründet sich auch auf die Beobachtung, dass die Dichte des Treibeises in der Gegend im Verlauf des Dienstags nachgelassen hatte. Möglicherweise hatten sich genug Lücken im Eis aufgetan, um den Orcas einen Weg ins offene Meer zu bahnen.

Tote Orcas im Eis
2005 konnten sich ebenfalls rund zehn Orcas nicht mehr aus dem Treibeis vor Rausu befreien. Ihre Kadaver wurden kurze Zeit später entdeckt und untersucht.
Foto: Yoshikazu Uni Tokyo University of Agriculture

Eis aus dem fernen Norden

Die Gewässer um die Halbinsel Shiretoko sind die südlichste Region der Nordhemisphäre, in der man im Winter arktisches Meereis beobachten kann. Der Ursprung des Treibeises liegt rund 1.000 Kilometer weiter nördlich im Ochotskischen Meer. Die Menge des Eises hat in den letzten Jahren aufgrund der steigenden Meerestemperaturen zwar abgenommen. Dennoch geschieht es in dieser Gegend immer wieder, dass Wale von den Eisplatten eingeschlossen werden.

Zuletzt geriet hier im Februar 2005 eine Gruppe von Orcas in die Bredouille. Für diese Meeressäuger ging die Sache leider nicht gut aus. Die entkräfteten Tiere ertranken vermutlich, Forschende konnten kurz nach dem Vorfall neun Kadaver bergen: ein Männchen, fünf Weibchen und drei Kälber. (tberg, 7.2.2024)