Dystopie Putin-Russland Sorokin Soz-Art
Autor Vladimir Sorokin (68) hat auch wegen Putins Autokratismus den Gang ins deutsche Exil angetreten: Er lebt heute in Berlin.
Maria Sorokina

In den Nachfolgestaaten von Putins Riesenreich lässt es sich anständig leben. Zwar liefern einander Länder wie die Republik Altai und Kasachstan ununterbrochen kleine atomare Scharmützel. Aber auf der riesigen eurasischen Landmasse findet sich trotzdem noch genügend Platz für Wegelagerer, Riesinnen, Esoteriker – nicht zu vergessen zottelige Orks. Die sperren versprengte Menschen in ein Sumpflager, in dem die Bedauernswerten iPhones aus Totholz schnitzen müssen. Wer nicht pariert, wird mit dem Ork-Hammer kerzengerade in den Morast gedroschen.

Russland, wie wir es kennen, ähnelt in Vladimir Sorokins neuem Roman Doktor Garin dem Produkt einer verwegenen Mutation. Viele Ausgangsstoffe sind mit Händen zu greifen. Es finden sich Spurenelemente der russischen Erzähltradition. Man lauscht dem Wispern der Birken. Man erblickt die gutherzigen Bauern in der endlosen Landschaft, in der Industrieschrott aus alten Sowjetzeiten Moos ansetzt.

Seit bald 40 Jahren wuchert Sorokins Erzähluniversum scheinbar unkontrolliert in die Zukunft. Man schreibt jetzt die 2050er-Jahre. Die Menschen in Doktor Garin bestaunen Hologramme. Besonders gut getroffen hat es eine Abordnung psychisch labiler Patienten, die eingangs in der "Republik Altai" residiert: eine Gruppe geklonter oder anderweitig reproduzierter Politiker-Gesäße.

Rund ein halbes Dutzend solcher überlebensgroßer Hintern erfreut sich der Pflege durch den titelgebenden Doktor Garin. Der gütige Primar mit dem Zwicker hat ein paar besonders eindrucksvolle Exemplare unter seiner Obhut: "Donald", ein Vielfraß, der Cola über sein Essen schüttet, ist mit rötlichen Sommersprossen gesprenkelt.

Er war's nicht

Es gibt "Silvio", "Boris" und die grundvernünftige "Angela". Über jedem Hintern thront ein riesiges Augenpaar, "fünfmal so groß wie normale". Ein besonders verschmitztes Exemplar heißt "Wladimir". Der artikuliert zu jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit ein- und denselben Satz, ein fernes Echo auf den "Niemand"-Sager von Odysseus bei Homer: "Ich war’s nicht".

Putin soll es also nicht gewesen sein. Tatsächlich ist Sorokins irrwitziges Epos bereits 2021 auf Russisch erschienen, rund ein Jahr vor dem Überfall auf die Ukraine. Den, der für das Wohlergehen der, pardon: quietschfidelen Ärsche Sorge trägt, ist ein alter Held aus besseren, das heißt zukünftigen Tagen.

Garin geriet einst in Sorokins Schneesturm (2012). In der gleichnamigen Erzählung verlor der Arzt sich mit einem Koffer voller Anti-Zombie-Serum in einer Schneewüste. Schlittenpferde, kaum größer als Schoßhündchen, zogen den Mann in sein vorläufiges Verderben. Ehe ihn Chinesen vor dem Kältetod erretteten. Jetzt besitzt der Springinsfeld Kunstfüße aus Titan und reichlich Neugier.

In Doktor Garin kann man die Erzählschäden begutachten, die 60, 70 Jahre Postkommunismus hinterlassen haben. Auf das verheerende Ende der Sowjetunion folgten Jahre des Plutokratismus. Sorokin, der als junger Autor Avantgarde-Kunst schuf („Soz-Art“), macht heute ausgiebig Gebrauch von den Mustern der Trivialliteratur. Nur so scheint das Geschriebene mit dem bereits jetzt real existierenden Wahnsinn Schritt halten zu können.

Gargantueske Züge

Väterchen Garins Irrfahrt durch das dystopische Vielvölkerreich besitzt gargantueske Züge. Es wird viel und vernehmlich gefurzt. Als Sexualpartnerinnen erkiest sich dieser unverzagte Greis unter anderem eine Drei-Meter-Frau – und ein entzückendes Ork-Albino-Mädchen, das den Doktor nicht ganz uneigennützig aus der Sklaverei befreit. Garin soll mit ihr ein Kind zeugen.

Es ist eben "Väterchen Russland", das den Völkern an der Peripherie sein Erbgut vermacht. Sorokin ist der unbarmherzigste Satiriker seiner durch Krieg und Korruption zerschundenen Heimat. Er selbst lebt seit Beginn des Putin‘schen Ukraine-Kriegszuges in Berlin, wo er mithalf, den dortigen PEN neu aufzustellen. Vieles von dem, was uns in seiner Monstrosität heute alltäglich dünkt, steht in Werken wie dem Vorgängerroman Telluria (2015) verzeichnet. In der Meistersatire Doktor Garin erfahren wir heute die Folgen für Morgen.

In einem Text im Text – Sorokin liebt solche Intermedien – entwirft er das Bild einer Sowjetunion, wie sie sich in Wahrheit hätte entwickeln können. Berija, NKWD-Büttel und Stalins langjähriger Kettenhund, wäre 1953 statt Chruschtschow an die Macht gekommen.

Die Folgen wären allerliebst gewesen. Anstatt Mangels hätte es Milch und Schlagobers im Überfluss gegeben. Die Bäuerchen wären mit ihren wertvollen Buttereierzeugnissen durch blühende Städte auf den Wochenmarkt gefahren. Die kontrafaktische Wahrheit lautet, Wohltäter hätten ihre Herrschaft über Russland ausgeübt. Solche, die heute oder überübermorgen tatsächlich von sich sagen zu sagen gewusst hätten: "Ich war’s nicht!" (Ronald Pohl, 8.2.2024)