Der intelligente Tempoassistent ist erstens verpflichtend und zweitens immer häufiger Stein des Anstoßes im Fahralltag. Weil: Die jeweils gültige Höchstgeschwindigkeit wird häufig falsch erkannt.
Foto: Volkswagen

Wir schreiben das Jahr 1998. Ich sitze in der A-Klasse, drehe den Zündschlüssel, drücke den Gang rein und fahre los. Wir stehen am Beginn der elektronischen Revolution, in der Folge des Elchtestdesasters hat Mercedes dem neuen Einstiegsmodell das sündteure, von Bosch entwickelte elektronische Stabilitätsprogramm ESP verordnet, das Brems-Antiblockiersystem ABS ist bereits Stand der Technik. Visionär das Unterflurkonzept, das die A-Klasse auch als E-Mobil andenkt und mit Wasserstoffbrennstoffzelle.

Und jetzt Schnitt, Zeitsprung, Herbst 2023, 25 Jahre in die Zukunft. Wieder Mercedes, EQE SUV, elektrisch. Reihe mich an einer Kreuzung gleich nach rechts auf eine zweispurige Straße ein, bereite mich aufs Einlenken vor – da flackert und alarmsignalt es hektisch, der Gurt wird ruckartig strammgezogen, Vollbremsung. Die Sensorik hat eine Notsituation erkannt, wo gar keine ist. Mercedes ist da nicht allein, das ist inzwischen flächendeckend. Abgesehen vom eigenen Schreck könnte es passieren, dass hinten wer draufkracht oder du von Mitreisenden des Nichtfahrenkönnens bezichtigt wirst.

Jedes Mal aufs Neue

Und was viele richtig nervt: die seit Juli 2022 in neuen Fahrzeugmodellen behördlich vorgeschriebene Tempolimit-Warnakustik. Wer die nicht erträgt, muss sie bei jedem, sic: jedem Start deaktivieren. Nein, es geht nicht darum, bewusst Vorschriften zu missachten, sondern in vielen Fällen detektiert der leidige Piepser die aktuelle Höchstgeschwindigkeit einfach falsch. Bei dir piept's wohl.

Ähnlich verhält es sich mit Spurhalter und -verlassenswarner. Auch die müssen jedes Mal aufs Neue von der Aufgabe entbunden werden, denn wer will schon, dass einem permanent wer ins Lenkrad greift, weil die Sensorik meint, es besser zu wissen als die natürliche Intelligenz an Bord. Und so zählt es neuerdings zum Fahralltag, bei jedem Start dieser rollenden Computer zu warten, bis die Elektronik hochfährt und man sich in etlichen Schritten durch die Menüs alles den eigenen Vorstellungen und Wünschen entsprechend konfiguriert hat. Da lässt man schnell jeweils eine Minute liegen.

Sehen Sie das Fahrzeugsymbol mit grün leuchtendem Kreis rundherum, oben zwischen den Lüftungsdüsen? Kurze Zeit drücken, und die Assistenten sind weitgehend deaktiviert. Gab es bis vor kurzem bei BMW, ist so nicht mehr erlaubt und muss für erschwerten Zugriff in Submenüs versteckt werden.
Foto: BMW

BMWs geniale Taste in der Mittelkonsole zum Beispiel, die man zwei, drei Sekunden drücken musste, und dann war man die Schulmeisterei los, ist längst Geschichte, weil nicht mehr erlaubt.

All das macht Autofahren zunehmend zum Ärgernis. Und das ist erst der Anfang. In Drastik, Vehemenz und Lautstärke unterscheiden sich manche Hersteller geringfügig von anderen, die Tendenz ist aber überall gleich.

Rundum abgesichert

Vom Luxusschlitten bis zum Kleinwagen: Was langsam mit ABS und ESP begann, ist nun dutzendfach in Form von (Sicherheits-)Assistenten an Bord, Kameras, Radar, Lidar, Ultraschall etc. leisten 360-Grad-Abdeckung, Autos kommunizieren miteinander, alles Schritte Richtung autonomes Fahren – was indes langsamer vorangeht als in der ersten Euphorie vor zehn Jahren gedacht, zu komplex die Materie. Ist aber ein Milliardengeschäft, weshalb ja auch alle IT-Riesen mit Vehemenz hineindrängen.

Ah, das: Zusammengefasst werden diese Systeme unter dem, wie könnte es anders sein, inselsächsischen Akronym ADAS (Advanced Driver Assistance Systems). Und wenn ich in dem Zusammenhang noch einmal das Tempoassistenzsystem erwähne, so deshalb, weil dieses heuer ab 6. Juli nicht nur in jeder neu typisierten Baureihe verpflichtend verbaut sein muss, sondern überhaupt in jedem Fahrzeug, das neu zugelassen wird. Pieppiep.

Sicherheitsassistenzsysteme sichern das Fahrzeug mit ihrer Sensorik mittlerweile rundum.
Foto: BMW

Fast gewinnt man den Eindruck eines inversen mephistophelischen Prinzips: Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Geht es dem hehren Ansatz nach um Rettung von Menschenleben, wird man realiter immer mehr in Geiselhaft von teils zudem unausgereifter Technologie genommen; das greift zuweilen weit über jene unterstützende Funktion hinaus, als die's gedacht war. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

Man fährt mit ruhiger Hand durch die Lande – und wird aufgefordert, das Lenkrad wieder in die Hand zu nehmen (das man nie ausgelassen hatte). Oder blickt kurz zur Mittelkonsole auf den Bildschirm, unterhält sich mit der Sitznachbarin, dem -nachbarn: Zack!, blinkt die Kaffeetasse auf, unterstellt Müdigkeit oder Abgelenktheit und rät zur Pause. Leistete man dem Folge, man käme nach mancher Ausfahrt schwer überkoffeiniert ans Ziel.

Oder man legt eine Tasche auf den leeren Beifahrersitz – und wird angepiepst, dort den Gurt anzulegen. Fährt mit adaptivem Tempomat in eine Kurve: Auto bremst, weil es seitlich parkende Fahrzeuge als vor einem fahrend interpretiert. Und, und, und.

Aktiver Bremsassistent mit Fußgängererkennung, hier am Beispiel Mercedes. Höchst sinnvoll. Sofern das richtig funktioniert und es nicht grundlos zu Vollbremsungen kommt.
Foto: Mercedes-Benz AG

So entpuppen sich etliche dieser bald kompaniestark vorgeschriebenen Assistenzsysteme nach individuellem Empfinden als entbehrlich. Was wirklich Sinn macht, ist rasch aufgezählt. ABS und ESP: ganz klar, her damit. Totwinkelassistent: grandios. Adaptives Fern- und Kurvenlicht: detto. Head-up-Display: Blick bleibt stets am Verkehrsgeschehen. Navi: keine Ablenkung durch Kartenlesen. Ausstiegswarnung beim Türöffnen: Radfahrerinnen jedweden Geschlechts werden sich freuen, wiederum: hilfreich und gut. Parkassistent: gut und richtig für Menschen, die unsicher beim Ein- und Ausparken sind.

Rückfahrassistent bei eingeschränkter Rundumsicht: klar, sehr sinnvoll – wenn er denn richtig detektiert und nicht irrigerweise eine Vollbremsung reinhaut, was bei manchen Premiummarken öfter vorkommt, als publik wird. In Summe aber: Kann ich bitte das Jahr 1998 zurückhaben? (Andreas Stockinger, 8. Februar 2024)