Mann sitzt im Bett und hat eine blaue Pille in seiner Hand
Viagra verbessert den Blutkreislauf, das könnte auch Auswirkungen auf die Durchblutung im Gehirn haben.
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Bei den Demenzerkrankungen tappen Forscherinnen und Forscher seit Jahren im Dunkeln. Man weiß zwar, dass man mit dem richtigen Lebensstil das Risiko, später an Demenz zu erkranken, deutlich senken kann (DER STANDARD berichtete dazu etwa hier und hier), aber bis heute ist die Krankheit nicht heilbar.

Das liegt unter anderem daran, dass die vielen Formen von Demenz äußerst komplexe, neurodegenerative Erkrankungen sind. Vereinfacht gesagt kommt es dabei zu Veränderungen im Gehirn. Grund dafür ist die Ablagerung von Eiweißen, die im Gehirn zu fortschreitendem Verlust von Neuronen und deren Verbindungen führen. Kognitive Einschränkungen sind die Folge – und das bei jeder fünften Person über 85 Jahren. Zwar gibt es immer wieder neue Forschungsansätze für Therapien, für Euphorie ist es aber noch zu früh.

Geringeres Krankheitsrisiko

Jetzt bringt ein Forschungsteam vom University College London einen bisher kaum beachteten Kandidaten im Kampf gegen Demenzerkrankungen ins Spiel: Viagra. Die kleine blaue Pille und ähnliche Medikamente, die Erektionsprobleme verringern, könnten das Risiko, an Alzheimer – der häufigsten Form von Demenz – zu erkranken, deutlich reduzieren. Das schreiben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter in ihrer Studie, deren Ergebnisse im Fachjournal "Neurology" erschienen sind.

Das Forschungsteam rund um Studienautorin Ruth Brauer analysierte Krankenakten von rund 270.000 Männern. Sie waren im Schnitt 59 Jahre alt, und bei allen von ihnen wurde kurz vor Studienbeginn eine erektile Dysfunktion diagnostiziert. 55 Prozent von ihnen nahmen deswegen entsprechende Medikamente ein, die anderen 45 Prozent nicht.

Bei der Auswertung der Daten beobachteten die Forscherinnen und Forscher einen überraschenden Unterschied: Männer, denen Viagra oder ein ähnliches Präparat verschrieben worden war, erkrankten Jahre später deutlich seltener an Alzheimer als jene Männer, die kein derartiges Medikament einnahmen. Das Risiko, an dieser häufigsten Form der Demenz zu erkranken, reduzierte sich um 18 Prozent.

Dabei scheint es von der Dosis abhängig zu sein, wie stark die Medikamente das Risiko senken. Je mehr Medikamente verschrieben wurde, desto höher die Risikosenkung. Am stärksten war der Effekt nämlich bei den Männern mit den meisten Verschreibungen. Die Probanden, die im Laufe der Studie 21 bis 50 Verschreibungen erhielten, hatten ein um 44 Prozent reduziertes Risiko.

Kausaler Zusammenhang unklar

Das sei ein durchaus "ermutigendes Ergebnis", findet Leah Mursaleen, Forschungsleiterin von Alzheimer's Research UK, aber es seien noch weitere Forschungsarbeiten und vor allem klinische Studien notwendig, um einen kausalen Zusammenhang bestätigen zu können. Noch ist nicht ganz klar, ob die Medikamente tatsächlich für die Verringerung des Alzheimer-Risikos verantwortlich sind oder sie die Krankheit verlangsamen oder aufhalten können. Durch die Beobachtungsstudie könne man nämlich nicht ausschließen, ob beispielsweise Männer, die ohnehin weniger anfällig für Demenzerkrankungen sind, einfach häufiger zu Tabletten greifen.

Außerdem fehlten in den Krankenakten entscheidende Informationen. So wurden beispielsweise bei manchen Probanden die körperliche Fitness und die sexuelle Aktivität nicht zuverlässig erfasst. Dementsprechend konnten die Forscherinnen und Forscher diese essenziellen Lebensstilfaktoren nicht berücksichtigen.

Dennoch sei die Studie ein wichtiges Puzzleteil für den künftigen Umgang mit der Krankheit, sind sich Fachleute einig. Und grundsätzlich kann man sich die Studienergebnisse auch gut erklären, denn Viagra wurde ursprünglich unter anderem zur Behandlung von Bluthochdruck entwickelt. Viagra und ähnliche Präparate sind dabei sogenannte PDE5-Hemmer. Diese wirken entspannend auf die Venen und Arterien, sodass das Blut besser fließen kann. Nur durch Zufall bemerkte man die unerwarteten Nebenwirkungen auf die Potenz, woraufhin das Medikament milliardenschwer als Pille gegen Erektionsstörungen vermarktet wurde.

Placebokontrolle schwer möglich

In der Theorie wäre es also logisch, dass die Potenzmedikamente auch zur Alzheimer-Prävention genutzt werden könnten. Dass sich bei Viagra-Einnahme die Durchblutung im Gehirn verbessert, wurde auch schon in Studien mit Tieren nachgewiesen. Aber bei Humanstudien sind die Ergebnisse bis dato widersprüchlich. 2021 zeigte eine an der Cleveland Clinic in Ohio durchgeführte Studie, dass Viagra-Konsumenten ein um 69 Prozent geringeres Alzheimer-Risiko hätten. Eine Studie von einem Forschungsteam in Harvard aus dem selben Jahr stellte hingegen keine schützende Wirkung fest.

Nichtsdestotrotz sei es laut Expertinnen und Experten lohnend, das Thema weiter zu erforschen – vor allem auch an Frauen. Denn wenn PDE5-Hemmer tatsächlich vor Alzheimer schützen, müssten die Medikamente bei Frauen genauso gut wirken. "Dies ist eine bedeutende Entwicklung, denn die Umwidmung vorhandener Medikamente zur Vorbeugung von Demenz ist eine vielversprechende Strategie, um die Entstehung von Demenz von vornherein zu verhindern", sagt Ivan Koychev, ein leitender klinischer Forscher an der Universität von Oxford. Eine placebokontrollierte Studie sei allerdings schwierig durchzuführen, gibt er zu Bedenken. Die Wirkung von Medikamenten wie Viagra ist so auffällig und deutlich spürbar, dass Ärztinnen und Ärzte sowie Patienten sofort wissen würden, ob sie tatsächlich das Medikament oder eine Placebo-Tablette erhielten.

Das Potenzial dieses Ansatzes ist jedenfalls nicht zu unterschätzen, denn die Entwicklung von Medikamenten für Demenzerkrankungen ist enorm kostspielig. Leah Mursaleen von Alzheimer's Research UK sagt: "Die Möglichkeit, Medikamente, die bereits für andere Krankheiten zugelassen sind, wiederzuverwenden, könnte den Fortschritt beschleunigen und neue Wege zur Vorbeugung oder Behandlung von Demenzerkrankungen eröffnen." (Magdalena Pötsch, 11.2.2024)