Liebe und Verliebtsein sind zwei Paar Stiefel und müssen als getrennte Phänomene jeweils eigenständig betrachtet werden: Veronika Fischer.
Milena Schilling

Wenn wir anfangen, über Liebe zu sprechen, so können wir dorthin schauen, wo Liebe anfängt. In den meisten Darstellungen wird der Beginn einer Liebesgeschichte als ein Zustand gezeigt, in dem Körper und Geist eine ganz verrückte Symbiose eingehen, irgendwas zwischen Wahnsinn und Rausch, von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Oftmals wird das als "Liebe" bezeichnet, aber man meint etwas anderes, und zwar: das Verlieben. Eine Unkontrollierbarkeit, ein Ausgeliefertsein, eine Überwältigung.

Die schwedische Politikwissenschafterin Liv Strömquist beschreibt es in ihrem genialen Comic Der Ursprung der Liebe so: "Sich zu verlieben bedeutet ja, dass man völlig machtlos ist, ohne Arme und Beine, sozusagen Dönerfleisch, das sich in einer fettigen Imbissbude immer im Kreis dreht, zu nichts fähig, außer gegrillt zu werden, hilflos, man kann nichts mehr, ist einfach eine Art Ort, ein Ort, der einen Wunsch beherbergt, einen einzigen Wunsch, und zwar, einem blöden Typen namens Kevin (oder so) nah zu sein."

Wie aber passiert es, dass man sich von einem normalen Menschen in Dönerfleisch verwandelt? Im krassesten Fall geschieht das Verlieben innerhalb von Sekunden. "Liebe auf den ersten Blick" nennt sich dieses Phänomen, und wir alle wissen (mal wieder dank Hollywoods und Walt Disneys), wie es abläuft: Eine Person betritt den Raum, und plötzlich steht die Welt still, alles bewegt sich in Zeitlupe, Sterne fallen vom Himmel, Geigenmusik erklingt, und es ist klar, dass dieser eine Moment nun das ganze Leben verändern wird – man hat den Menschen gefunden, mit dem man zusammen sein will: Man ist verliebt!

Annäherungsbereitschaft

Die biologische Forschung hat diesen Prozess unter die Lupe genommen und festgestellt, dass er tatsächlich ein bisschen in Richtung Wahnsinn geht. Auf hormoneller Ebene und in Hirnscans kann man sehen, dass Frischverliebte die gleichen Auffälligkeiten zeigen wie Menschen mit Zwangsstörungen oder Suchterkrankungen.

Die Hormone bewegen sich irgendwo zwischen Panikmodus und erhöhter Annäherungsbereitschaft, was sich auch evolutionsbiologisch gut begründen lässt. Für die Kontaktaufnahme zwischen zwei Menschen, die sich nicht kennen, ist es nämlich wichtig, dass die gewohnten Mechanismen für einen Moment außer Kraft gesetzt werden und man sich darauf einlassen kann, mit einer fremden Person innerhalb kürzester Zeit sehr eng und intim zu werden – was ja im "Normalzustand" nicht vorgesehen ist. Wenn sich aus einer Begegnung eine feste Beziehung entwickelt, pendeln sich die Hormone wieder ein.

Verliebtsein versus Liebe

Es zeigt sich also schon rein körperlich, dass Verliebtsein etwas anderes ist als das, was wir meinen, wenn wir von "Liebe" sprechen. Es ist begrifflich strikt voneinander zu trennen – und das Verlieben ist eine Analyse wert, um zu verstehen, was Liebe eben nicht ist. In der Abhandlung Über die Liebe analysiert der Schriftsteller und Philosoph Marie-Henri Beyle unter dem Pseudonym Stendhal die Verliebtheit und nennt sie durchgehend "Liebe" – ein Trugschluss, den man auch in anderen Schriften oft findet. Damit erweist Stendhal uns einen großen Dienst, denn er zeigt, wie nahe die Begriffe beieinanderliegen und wie schnell Missverständnisse entstehen. Zu seinen Lebzeiten findet Stendhals Werk wenig Anklang und wird nur siebzehn Mal verkauft.

Er selbst fragt sich, woher das Desinteresse der Gesellschaft an diesem großen Thema rührt und beschließt, dass sein Werk eigentlich für die Zukunft reserviert sei. Und tatsächlich: Nach seinem Tod wird er zur Kultfigur des "Beylismus" – wie Stendhal selbst seine Weltanschauung scherzhaft nannte. Er findet Lob und Anerkennung bei den großen Literaten wie Nietzsche, Balzac, Tolstoi und Goethe, der ihn so beschreibt: "Er zieht an, stößt ab, interessiert und ärgert, und so kann man ihn nicht loswerden."

Buchcover
Es handelt sich bei diesem Text um einen Abdruck aus Veronika Fischers Buch "Liebe", das dieser Tage im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen ist. € 20,– / 128 Seiten.
Verlag

Warum Liebe wehtut

Was man über Stendhal noch wissen sollte, ist, dass er Jahre seines Lebens in einer unerfüllten Liebe zu der politischen Aktivistin Me´tilde Viscontini Dombrowsky verbringt, Gattin eines napoleonischen Generals, die ihn nie erhört. Er bewegt sich also in der Sphäre eines mittelalterlichen Minnesängers, der seine Geliebte nicht berührt, der die Monologe, die er in seinem Inneren führt, niemals in ein reales Gespräch umsetzt, der nicht verwirklichen kann, wovon er unentwegt träumt. Stendhal erlebt in seinem Leben keine Liebesbeziehung, er verweilt im Verliebtsein. Und das beschreibt er in folgender Metapher: "In den Salzburger Salzgruben wirft man in die Tiefe eines verlassenen Schachtes einen entblätterten Zweig; zwei oder drei Monate später zieht man ihn über und über mit funkelnden Kristallen bedeckt wieder heraus; (...) man erkennt den einfältigen Zweig gar nicht wieder."

Dieses Bild überträgt Stendhal auf die Verliebtheit, da man die geliebte Person seiner Ansicht nach ebenfalls mit strahlenden und funkelnden Eigenschaften überzieht. Es geht um eine Form der Verklärung und Verzauberung einer anderen Person. Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz fügt in ihrer Abhandlung Warum Liebe weh tut einen wichtigen Gedankengang hinzu: "(Die romantische Einbildungskraft, Anm.) verwandelt die Liebe in ein vorgreifendes Gefühl, ein Gefühl also, das empfunden und erträumt wird, bevor es sich in Wirklichkeit einstellt; dieses vorgreifende Gefühl wiederum beeinflusst die Einschätzung der Gegenwart, weil es ermöglicht, dass sich reale und fiktionale Emotionen überlagern und ersetzen." Es ist also nicht nur eine andere Person, sondern auch die Liebe selbst, in die man sich verliebt. Die Idee, dass man jemanden lieben könnte, und die Fantasie, wie das dann im Detail aussieht, wie es sich anfühlt und welches Glück es bringt, erzeugt und verstärkt die große Sehnsucht nach der Person, auf die man alles projiziert.

Luftschlösser bauen

Der von Stendhal beschriebene Prozess der Kristallisation führt zu einem Kreislauf aus Hoffnung und Angst vor der Enttäuschung, der sich immer tiefer in die Seele des Verliebten einfrisst. Je größer die Einbildungskraft ist, je bunter das Bild vom glücklichen Leben ausgemalt wird, je klarer man das Luftschloss sieht, desto drastischer ist das Leid, wenn es nicht real wird.

Versuche, wieder zurück zu der ursprünglichen Gefühlswelt zu kommen, scheitern. Der Prozess wird immer intensiver und krasser. Verliebte wandeln "am Rande eines schrecklichen Abgrundes, während das vollkommene Glück greifbar vor (ihnen, Anm.) schwebt" – diese Phase sieht Stendhal als entscheidend zwischen den Möglichkeiten, "geliebt zu werden oder sterben zu müssen". Hierbei wird deutlich, welche Rolle der Erwiderung der Gefühle sowie deren Umsetzung in eine Partnerschaft oder zumindest in einen Dialog gleicher Erwartung zugeschrieben wird: die des vollkommenen Glücks. Die Liebesbeziehung wird als Erlösung angesehen, als Befreiung und Heilung. Die Hoffnung auf eine Verwandlung von Verliebtsein in Liebe ist also immer Teil des Programms.

Herzensangelegenheit

Das Verliebtsein kann in einem Augenblick entstehen und uns vollkommen unvermittelt überwältigen. Ist es aber deshalb vollständig losgelöst von der inneren Haltung eines Menschen? Was unterscheidet eine Situation, in der sich zwei Menschen kurz anschauen und bis über beide Ohren verliebt sind, von einer Alltagssituation an der Supermarktkasse, in der nichts passiert, trotz Blickkontakts?

Eine Antwort hierauf findet sich in einer der berühmtesten Liebesgeschichten der letzten Jahrhunderte: Romeo und Julia. Als die beiden sich zum ersten Mal begegnen, ist Romeo eigentlich gerade mit einer anderen Herzensangelegenheit beschäftigt, und zwar mit seinem Leid darüber, dass eine gewisse Rosalinde seine Zuneigung nicht erwidert. Romeo zerfließt im Liebesleid: "Liebe ist Rauch, gemacht aus Seufzerschwaden; Geschürt: ein Augenfeuer, drin Verliebte baden; Erstickt: ein Meer, gespeist mit Tränenströmen. Was ist sie sonst? Nur kühlste Raserei, zuckrige Galle, schale Näscherei."

Eine Idee von Liebe

Von seinem Freund Benvolio erhält er den Rat, er solle seinem Auge Freiheit gönnen und sich andere Frauen anschauen. Für Romeo ist das zunächst ausgeschlossen, da er Rosalinde für unübertrefflich schön hält, aber dann erscheint Julia auf seiner Bildfläche – und zack, ist es um ihn geschehen. "Sie hat das Licht zum Leuchten erst gebracht! Sie funkelt an den Wangen dieser Nacht wie im Ägypterohr ein Edelstein – Schönheit unfassbar reich, der Welt zu rein! (...) Augen, vergesst! Kannt ich der Liebe Macht? Nie sah ich solche Schönheit bis heut Nacht!"

Romeo war also schon auf der Suche nach einer Liebschaft, er hatte bereits eine Idee von Liebe und verspürte Sehnsucht nach einer Beziehung. Er wurde nicht aus dem totalen Off von seinen Gefühlen überfallen. Und auch Julia geht nicht unvorbereitet in diese Begegnung. Da sie schon fast vierzehn Jahre alt ist, macht sich ihre Mutter Gedanken um eine Vermählung. Ihr schwebt ein junger Graf vor, und sie gibt ihrer Tochter den Rat: "Lies sein Gesicht, es ist ein offnes Buch, wo Schönheit deine Freuden niederschrieb. Prüf diese Zeilen, die harmonisch fließen, und wechselseitig ihren Sinn erschließen, und wird bei der Lektüre was nicht klar, lies seinen Blick dazu als Kommentar." Der Schuss geht leider nach hinten los, Julia liest nämlich nicht im Gesicht des Grafen, sondern in dem des Sprösslings der verfeindeten Familie: Romeo. Und die Tragödie nimmt ihren wohlbekannten Lauf ...

Schlösser an Gitter
Unverbrüchlich und vergänglich zugleich: Zumindest symbolisch lässt sich die Liebe festhalten, einsperren lässt sie sich nicht.
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Was anhand dieser Geschichte deutlich wird, ist, dass es die Bereitschaft einer Person braucht, um die Verliebtheit aufflammen zu lassen. Romeo war ganz klar bereit, ob nun Rosalinde oder Julia, nun ja, egal, Hauptsache, es knallt. Wäre er noch tiefer in seiner Trübsal gefangen oder gerade mit einem anderen Thema beschäftigt gewesen, Fasanenjagd oder Forellenzucht oder was auch immer junge Adelige zu dieser Zeit so gemacht haben, wäre Julia für ihn überhaupt nicht interessant geworden.

Dieser Pragmatismus killt jetzt möglicher- weise die Romantik der gesamten Geschichte und macht es beim genaueren Nachdenken irgendwie erstaunlich, dass dieses Paar immer wieder zitiert wird, wenn es um Liebe und Romantik geht, andererseits ist es vielleicht einfach nur ehrlich.

Liebe zwischen Teenagern

Abgesehen davon muss man sich bei all den Interpretationen und Inszenierungen immer wieder bewusstmachen, dass Romeo und Julia eine Liebesgeschichte zwischen zwei Teenagern ist. Julia ist dreizehn Jahre alt und Romeo vermutlich gerade so im Stimmbruch – und ähnlich wie Stendhal erfahren auch die beiden nie, was die Liebe ist. Es kommt nicht zu einer langfristigen Beziehung oder einem geteilten Alltag. Romeo und Julia bewegen sich rein im Stadium der Verliebtheit.

Verliebtheit und Liebe sind also zwei Paar Stiefel und müssen als getrennte Phänomene jeweils eigenständig betrachtet werden. Die Verliebtheit ist ein möglicher Anfang für eine Liebesgeschichte. Liebe kann aber auch ganz ohne Wahnsinn und Zwangsstörung entstehen. Zum Beispiel verwandeln sich manchmal langjährige Freundschaften in Liebesbeziehungen – Stichwort: "tausendmal berührt" ... Und auch in arrangierten Ehen kann mit den Jahren eine Vertrautheit und Intimität wachsen und zu Liebe werden. (Veronika Fischer, 13.2.2024)