Immanuel Kant
Immanuel Kant (1724–1804).
IMAGO/Album

Der erste Roman von Daniel Kehlmann hieß Beerholms Vorstellungen. Er erschien 1997 in Wien. Wer immer damals das Manuskript bei Deuticke angenommen und lektoriert hat (man kann annehmen: die legendäre Programmleiterin Martina Schmidt selbst), erzielte vielleicht eine folgenreiche Nebenwirkung. Denn Kehlmann saß zu der Zeit an einer philosophischen Dissertation, und wenn wir uns vorstellen, dass die Ermutigung zum Schreiben von Romanen auf sich warten lassen hätte, dann wäre er jetzt vielleicht Doktor der Philosophie – und womöglich ein zweiter Markus Gabriel, um einen heutigen Philosophen zu nennen, der den Markt mit gut verkäuflichem Gedankengut versorgt.

Das Erhabene

Kehlmann interessierte sich damals für das Erhabene. Das ist einer der Begriffe, die unverbrüchlich mit Immanuel Kant verbunden sind. Und könnte es für einen vielfach Begabten eine bessere Genugtuung geben, als bald dreißig Jahre später in einem anderen als dem akademischen Rahmen eine Art Plauder-

Promotion abzuhalten, die vielleicht auch den Weg ebnet für ein Ehrendoktorat an der Alma Mater Rudolphina? Auch so könnte man das Buch einordnen, das Kehlmann gerade mit dem Philosophen Omri Boehm herausgebracht hat: Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant. Ein Schriftsteller und ein Professor treffen sich in der Mitte, nämlich auf dem Terrain der Intellektuellen, und sprechen über den alten Meister aus Königsberg, dem ein Ruf des Pedantischen hinterhereilt. Kant, der Philosoph der Aufklärung, und zwar nicht nur der historischen im 18. Jahrhundert, sondern einer prinzipiellen Aufklärung. Kant, der Verfasser dreier Kritiken, die das Verhältnis zwischen Vernunft und Wissenschaft, Religion und Kunst grundlegend zu ordnen versuchten.

Eine gute Konstellation

Omri Boehm wurde als Philosoph zu einem Star, indem er sich gerade dann für Kants Denken einzusetzen begann, als dieser zunehmend für rassistische Passagen in seinen Werken unter Verdacht geriet. Boehm begann aber mit einer Studie zu der jüdisch-biblischen Geschichte von Abraham und Isaaak, die er zuletzt in seinem Buch Radikaler Universalismus originell wieder aufgriff. In dem Gesprächsbuch mit Kehlmann ist er die philosophische Instanz, der Schriftsteller bescheidet sich damit, den kenntnisreichen und intelligenten Laien zu geben – eine Konstellation, die erstaunlich gut funktioniert, wenn man bedenkt, dass dem ganzen Buch zwei Tage faktisches Gespräch zugrunde liegen, noch dazu in zwei Sprachen, Boehm wurde für den schriftlichen Text aus dem Englischen übersetzt.

Das Ergebnis ist gut lesbar und lohnende Lektüre. Denn Boehm und Kehlmann schaffen es, das Denken von Kant im Detail so zu diskutieren, dass man die historischen Konstellationen verstehen lernt, aus denen Kant kam – im Wesentlichen waren das die frühneuzeitlichen Fragen bei Spinoza und Leibniz, die das Verhältnis von Gott und Welt zu klären versuchten. Im Hintergrund steht dabei immer das, was als abendländische Metaphysik geläufig ist: ein scheinbar rationales System, das nach den Logiken des Gott-Welt-Verhältnisses suchte und dafür viele Voraussetzungen einführte, die den Vernunftansprüchen von Kant nicht genügten.

Buchcover
Omri Boehm, Daniel Kehlmann, "Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant". € 27,50 / 352 Seiten. Propyläen, Berlin 2024.
Propyläen

Autoritätsverhältnis

Die Metaphysik schuf auch ein Autoritätsverhältnis: Menschen hielten sich an Gebote, weil die von Gott kamen, er war der Urheber von allem. Kant war der Philosoph, der dieses Autoritätsverhältnis kündigte: Die Normen kommen nicht von Gott. Und das Erhabene als eine Erfahrung von etwas, das für den Verstand zu groß ist (der gestirnte Himmel, der Kosmos, letztlich: die Unendlichkeit), verweist nicht auf Gott, sondern auf die menschliche Freiheit.

Damit ist Boehm bei seinem zentralen Anliegen: die Menschheit als moralischer Begriff, die Aufklärung als ethischer Standpunkt. Dieser Universalismus wird heute gern als verbrämt eurozentristisch bestritten, wodurch Boehm auf eine Mission geraten ist, auf der ihm Kehlmann bereitwilligst folgt. Denn sie entspricht zutiefst seinen eigenen intellektuellen Intuitionen. Er würzt die hochkarätige Plauderei auch immer wieder mit Zitaten von Kolleginnen aller Zeitalter – in dem Buch wird, dies nebenbei, elegant und unaufdringlich auch gegendert.

Da Kant die Philosophie neu aufgestellt hat, ist das Buch auch als Einführung in das philosophische Denken lesbar: Logik, Wissenschaftstheorie, Ästhetik, Ontologie, alles taucht auf und wird im Durchgang durch die Themen der drei Kritiken angesprochen. Kehlmann geht vielleicht ein wenig zu weit, wenn er hofft, dass Kant sogar das "Problem der Kunst gelöst" habe, aber das kann man als Optimismus lesen, der durchklingt. Wenn Boehm einen "Begriff der Menschheit" vorschlägt, der "nicht an diese Welt gebunden ist", hat man die Radikalität dieser Lektüre ganz gut auf einem Punkt. Das Gespräch zweier immer noch junger, weißer Männer über einen prototypischen alten, weißen Welterklärer wird sicher schon aufgrund dieser Konstellation auf Argwohn stoßen. Man sollte sich davon nicht in die Irre locken lassen. (Bert Rebhandl, 11.2.2024)