Wer jung ist, spricht tendenziell weniger nach der Schrift.
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Sprache verändert sich. Der Gebrauch des Konjunktivs geht im Deutschen zurück, und alle wissen plötzlich, was ein "Selfie" ist. Doch abseits dieses generellen Sprachwandels verändert sich auch der individuelle Sprachgebrauch eines Menschen über die Lebensspanne hinweg. Die These: Geprägt von der beruflichen Kommunikation, spricht man im mittleren Lebensalter eher "Hochdeutsch", also deutsche Standardsprache. Später kehrt man dann, auch weil man selbstbewusster und bodenständiger wurde, zu dialektalen Sprechweisen zurück.

Doch nicht nur die Altersentwicklung hat Einfluss auf den persönlichen Sprachgebrauch. Das Leben selbst hinterlässt Spuren. Ein Umzug aufs Land oder in eine andere Stadt, eine Heirat, der Pensionsantritt und viele andere Ereignisse haben das Potenzial, den Gebrauch von Dialekt und Standarddeutsch zu verändern. Während der Einfluss des Alters schon länger Gegenstand der linguistischen Forschung ist, blieb der Einfluss solcher Lebensereignisse bisher noch weitgehend unerforscht. Diese Lücke soll eine Studie der Germanisten Mason Wirtz und Simon Pickl von der Universität Salzburg schließen. Sie erheben derzeit Daten in Österreich mittels eines Online-Fragebogens.

Alter entscheidend, aber ...

"Biografien können sehr unterschiedlich sein. Wenn nur das Alter als Variable für den Sprachgebrauch und -wandel herangezogen wird, geht diese individuelle Ebene im Sprachverhalten der Menschen verloren", erklärt Wirtz. "Wir untersuchen nicht nur, wie wesentliche Lebensereignisse Veränderungen im Sprachgebrauch über eine Lebensspanne vorantreiben, sondern auch, wie sich die Einstellungen der Menschen gegenüber Standardsprache und Dialekt verändern."

Aus der Betrachtung des Alters lassen sich Theorien ableiten, die eine Art "U-Kurve" im Sprachgebrauch ergeben. Demnach spricht man in der Jugend eher Dialekt, im Berufsalter dann eher Standardsprache, bevor man im Alter wieder zum Dialekt zurückkehrt. "Dieser Ansatz ist eine Idealisierung, die über viele Personen gemittelt zutreffend ist. Bei der Betrachtung des Einzelnen findet man dagegen sehr oft einen ganz anderen Verlauf – diesen versuchen wir mit den individuellen Lebensereignissen in Zusammenhang zu bringen", veranschaulicht Pickl.

Prägende Faktoren

Dass der Umzug oder ein Jobwechsel Einfluss auf den individuellen Sprachgebrauch haben können, erscheint klar. Die Wissenschafter hoffen aber auch auf die Messung von Zusammenhängen, die weniger offensichtlich sind: Beispielsweise könnten Familiengründung, ein Machtzuwachs im Job oder der Tod eines geliebten Menschen überraschende Effekte im Sprachgebrauch zeigen. Ein Ergebnis der Studie soll die Antwort auf die Frage sein, welche Lebensereignisse sich am stärksten auf eine individuelle Sprachveränderung auswirken.

Business-Frau
Durch die Arbeit, aber auch die Position ändert sich der individuelle Sprachgebrauch.
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Für diese Art der Untersuchung ist Österreich den beiden Germanisten zufolge ein besonders interessantes Testgebiet. "Die Situation ist deshalb spannend, weil Standardsprache und Dialekt hier Teil eines Kontinuums sind. Es steht eine Vielzahl von Sprachvarietäten zur Verfügung, zwischen denen etwa je nach sozialem Kontext bewusst gewechselt wird", erklärt Wirtz. "Im angloamerikanischen Raum findet man dagegen kaum so ein großes Sprachspektrum." Die Betrachtung der individuellen Biografien könnte neue Anhaltspunkte liefern, wie sich die Menschen an dem reichhaltigen Inventar an Varietäten bedienen.

Umfassende Umfrage

Damit würde man auch neue Grundlagen für künftige Forschungsarbeiten schaffen. Aufbauende Studien könnten etwa internationale Vergleiche anstellen oder die Auswirkungen von Lebensereignissen wiederum in verschiedenen Altersgruppen untersuchen. Pickl: "Im besten Fall könnte die Frage nach den Lebensereignissen neben jenen nach Alter, Beruf oder Geschlecht zum fixen Bestandteil von soziolinguistischen Untersuchungen werden, die Einflüsse auf den Sprachgebrauch abtesten."

Einige Hundert Probanden haben an der kürzlich gestarteten Umfrage bereits teilgenommen. Wirtz und Pickl hoffen auf viele weitere. Die Wissenschafter wollen noch nicht allzu viel an vorläufigen Ergebnissen preisgeben, um weitere Teilnehmende nicht zu beeinflussen. "Was wir sagen können, ist, dass verschiedene Lebensereignisse eine sehr große Rolle spielen können und offensichtliche Effekte in den Einstellungen gegenüber Standarddeutsch und Dialekt, aber auch dem aktiven Sprachgebrauch zeigen", verrät Wirtz. "Die stärksten Effekte sind bei jenen Menschen zu finden, die sich auf einer persönlichen Ebene mit einer Sprachvarietät verbunden fühlen. Diese Dialektidentität scheint also stark durch Lebensereignisse beeinflusst zu sein."

Wissenschaftstalk: Warum wir schimpfen

Eng mit Dialektalem verbunden ist auch das Schimpfen. Tiefe Sprüche, Vulgäres und Obszönes: Dafür ist Oksana Havryliv die Expertin schlechthin. Die gebürtige Ukrainerin erforscht, was Beschimpfungen über uns aussagen. Hinter den meisten Beschimpfungen und Verwünschungen stecke nicht die Absicht, jemanden direkt zu beleidigen, weiß die Germanistin. Wie sich die sich verändernde Sprache auf das Schimpfen auswirkt, welche Schimpfkulturen es in verschiedenen Sprachen gibt und wie sich die verbale Aggression in Schulen äußert, diskutiert sie am 20. Februar mit dem Journalisten Robert Sedlaczek in Wien. Die vom Wissenschaftsfonds FWF organisierte Veranstaltung ist gratis zugänglich, um Anmeldung wird gebeten. (Alois Pumhösel, 19.2.2024)