Das Interview, es war ein kluger, geschickter Schachzug des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Keine neuen Positionen, ein Interviewer, der keine kritischen Fragen stellt – aber das Ganze zielte mitten ins Herz der konservativen US-Wählerschaft, wo die Hilfen für die Ukraine zunehmend kritisch gesehen werden. Putin will als Friedensstifter dastehen, so sieht es die russische Politologin Tatjana Stanowaja, "der versucht, das ukrainische Volk zu retten".

Genau 127 Minuten lang dauerte das Interview, aufgezeichnet am Dienstag und in der Nacht zum Freitag zur besten Sendezeit in den USA veröffentlicht. Erwartungsgemäß dominierte Putin das Gespräch. Er machte langatmige Ausführungen und Exkurse über die Geschichte Russlands, holte bis ins 13. Jahrhundert aus und überreichte sogar dem Moderator eine Mappe mit Dokumenten, "damit Sie nicht denken, dass ich mir etwas ausdenke".

Nicht konfrontativ, sondern oft nur Stichwortgeber: US-Journalist Tucker Carlson interviewte Wladimir Putin für ein internationales Millionenpublikum.
Nicht konfrontativ, sondern oft nur Stichwortgeber: US-Journalist Tucker Carlson interviewte Wladimir Putin für ein internationales Millionenpublikum.
AFP/POOL/GAVRIIL GRIGOROV

Der für die Verbreitung von Verschwörungstheorien bekannte rechte Talkmaster Tucker Carlson stellte Putins Ausführungen nicht infrage. Auch nicht, als es um die aktuelle Politik ging. Will Russland etwa in Polen und in die baltischen Staaten einmarschieren? Natürlich nicht, wiegelte der Kreml-Chef ab. Russland habe überhaupt kein Interesse an Polen, Lettland oder anderen Ländern. Ängste vor einem russischen Angriff seien unangebracht. "Warum sollten wir das tun?" Es widerspreche dem gesunden Menschenverstand, sich auf "eine Art globalen Krieg" einzulassen. Den Nato-Staaten warf Putin vor, die eigene Bevölkerung mit dem Vorgaukeln einer "imaginären russischen Bedrohung" einzuschüchtern. Die nächste Frage: Könnte es ein Szenario geben, in dem "Sie russische Soldaten nach Polen schicken?" Putin antwortete: "Nur in einem Fall: wenn Polen Russland angreift."

Bekannte Argumente

Auch auf die Ukraine ging Putin ein. Die Argumente, allzu bekannt: Man sei zum Dialog bereit – die Zeit für Gespräche sei gekommen, weil der Westen erkennen müsse, dass der Konflikt für ihn militärisch nicht zu gewinnen sei. "Früher oder später wird das in einer Einigung enden." Den russischen Einmarsch rechtfertigte er erneut mit angeblichen historischen Gebietsansprüchen. Tucker Carlson ließ den Kreml-Chef weitestgehend ausreden, hakte selten nach und baute mitunter auch rhetorische Rampen für Putin.

Eine Neuigkeit allerdings gab es – und die bringt Deutschland mit ins Spiel: Carlson sprach Putin direkt auf den in russischer Untersuchungshaft sitzenden US-Journalisten Evan Gershkovich an und fragte, ob es Chancen auf dessen Freilassung gebe. Putin gab sich gesprächsbereit und deutete die Möglichkeit eines Gefangenenaustauschs an. "Es ergibt keinen Sinn, ihn in Russland im Gefängnis zu halten", so der Kreml-Chef. Gershkovich war Ende März 2023 auf einer Reportagereise in Jekaterinburg am Ural festgenommen worden. Die russische Staatsanwaltschaft wirft ihm Spionage vor. Gershkovich und seine Zeitung, das "Wall Street Journal", weisen diesen Vorwurf zurück.

"Altbekannte Lügen"

Ausgetauscht werden könnte der Journalist mit dem Dezember 2021 verurteilten sogenannten Tiergarten-Mörder Wadim Krasikow, der in Deutschland zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Diesem Austausch aber müsste die deutsche Regierung zustimmen. Krasikows Namen nannte Putin nicht, aber: "Wir sind bereit, das Problem zu lösen, aber es gibt bestimmte Bedingungen, die zwischen den Geheimdiensten diskutiert werden. Ich glaube, dass eine Einigung erzielt werden kann."

Putin: Niederlage Russlands ist "per Definition" unmöglich
Der russische Präsident Wladimir Putin hat in einem Interview mit dem US-Journalisten Tucker Carlson die Bereitschaft zum Dialog mit dem Westen geäußert. Eine russische Niederlage auf dem Schlachtfeld sei seiner Meinung nach schon "per Definition" nicht möglich, sagte Putin.
AFP

John Kirby, der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der USA, wies darauf hin, dass nichts, was in dem Interview gesagt wurde, für bare Münze zu nehmen sei. Putin habe "altbekannte Lügen, Verzerrungen und Manipulationen" wiederholt, sagte die Sprecherin des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Kritik übte sie auch an Carlson, der Putin "eine Plattform zur Manipulation und Verbreitung von Propaganda geboten" habe. Trotz aller westlichen Kritik: Das Interview wurde zum Medienereignis.

Jubel in Russland

Der frühere Fox-News-Moderator Carlson erreicht über soziale Netzwerke ein Millionenpublikum. Der Moderator war jahrelang eines der bekanntesten Gesichter von Fox News und sicherte sich eine große Gefolgschaft bei rechten Fernsehzuschauern. Er wurde im vergangenen April entlassen, nachdem Fox News im Streit um falsche Wahlbetrugsvorwürfe nach der Präsidentschaftswahl 2020 einen teuren Vergleich mit einem Wahlmaschinenunternehmen schließen musste. Carlson veröffentlicht seitdem Interviews auf der Onlineplattform X (vormals Twitter).

In Russlands Staatsmedien wurde das Interview bejubelt. Am Freitag war es praktisch bei allen großen Online-Medien der prominenteste Bericht. Der Videoclip sei bereits mehr als 60 Millionen Mal aufgerufen worden, berichtete etwa das Staatsfernsehen. Die Kreml-nahe Zeitung "Iswestija" wiederum zählte mehr als 475.000 Likes und zitierte einen ranghohen Beamten in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine, der sagte, der vom Westen zugezogene "Info-Vorhang" sei gescheitert.

Politische Beobachter hatten erwartet, dass der Kreml das erste Interview Putins mit einem westlichen Journalisten seit Kriegsbeginn für Propagandazwecke nutzen wird. "Dem Timing nach zu urteilen besteht die Hauptaufgabe des Interviews darin, den Skandal mit der Ablehnung der Registrierung (Boris) Nadeschdins zu überdecken", schrieb etwa der Politologe Abbas Galljamow. Nadeschdin wurde am Donnerstag als Kriegsgegner mit unerwartet großem Zulauf von Unterstützern wenige Stunden vor Veröffentlichung des Interviews von den Präsidentenwahlen in Russland ausgeschlossen. (Jo Angerer aus Moskau, 9.2.2024)