Österreich will sie zwar keine Ratschläge geben – aber das Beispiel ihrer Heimat Estland zeige eindrücklich, dass die Neutralität nicht immer schütze, erzählt Estlands Premierministerin Kaja Kallas im Gespräch. Russland jedenfalls sei nur mit Stärke beizukommen, von Schwäche fühle sich der große Nachbar ihres baltischen Staats zum Handeln provoziert. In Europa würden seit dem Ende des Kalten Kriegs viele noch in einer falschen Sicherheit leben, im Norden des Kontinents hätten Staaten wie Finnland oder Schweden den Ernst der Lage aber nun endlich erkannt. Auch wie sie die Zukunft des Kriegs in der Ukraine einschätzt und ob sie an einem Job in der EU interessiert ist, erklärt die Rechtsliberale im Interview mit dem STANDARD.

STANDARD: Sie gelten wegen Ihrer sehr harten Haltung im Ukrainekrieg und zu Russland als neue "Eiserne Lady" in der EU. Wie sehen Sie sich selbst?

Kallas: Ich habe starke Prinzipien, und das hat damit zu tun, wo ich herkomme. Ich habe lange ohne Freiheit gelebt, daher weiß ich auch, welche Bedeutung, welch hohen Stellenwert die Freiheit hat. Man muss um die Freiheit kämpfen.

STANDARD: Sie sind 1977 auf die Welt gekommen – Sie meinen die Zeit, als Estland noch Teil der Sowjetunion war, bis 1991?

Kallas: Als ich ein Teenager war, waren wir besetzt. Ich ziehe gerne Vergleiche zu meiner Oma. Als sie jung war, in den 1930er-Jahren, hatten sie alles, Freiheit, Wohlstand, sie konnten ihr Leben selbst gestalten, sie hatten alles.

STANDARD: Estland wurde 1940 zuerst von der Sowjetunion, 1941 dann von Nazideutschland besetzt, war dann 1944 wieder sowjetisch.

Kallas: Als die Besatzung begann, hat man der Familie alles genommen. Und nach dem Zweiten Weltkrieg war es erst recht so. Es gab zwar "Frieden", aber die Menschen hatten keine Wahl. Ich bin aus einer anderen Generation als meine Großmutter. Wir hatten die Freiheit nie.

Kaja Kallas ist Premierministerin und Chefin der liberalen Reformpartei von Estland. Ihre Großmutter wurde in Sowjetzeiten nach Sibirien deportiert, was sie prägte, wie sie im Interview erzählt.
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STANDARD: Bis zur friedlichen Revolution, der Loslösung Estlands von der Sowjetunion 1991.

Kallas: Was lehrt uns die Geschichte? Estland war zu Zeiten meiner Großmutter einmal ein neutrales Land, so wie Finnland, wurde von zwei bösen Großmächten besetzt. Der Unterschied ist, Finnland hat dann um seine Freiheit gekämpft. Es hat Teile seines Territoriums und im Krieg viele Menschenleben verloren.

STANDARD: Teile gehören heute zu Russland.

Kallas: Aber Finnland behielt seine Freiheit. Das haben wir in Estland nicht geschafft. Wir verloren Frieden, Freiheit, Wohlstand, auch die Hälfte der Bevölkerung. Wir haben nicht darum gekämpft. Wer nicht um seine Freiheit kämpft, verliert am Ende alles.

STANDARD: Hätten die Esten gegen die Besatzer kämpfen können wie die Finnen?

Kallas: Wir hätten kämpfen können, so wie die Ukraine heute. Auch wenn der Gegner noch so groß ist, solange man kämpfen kann, gibt es eine Chance zu gewinnen. Das weiß jedes Kind. Es gibt einen Unterschied zwischen einem echten Frieden und einem "Frieden". Wir hatten nach dem Zweiten Weltkrieg offiziell Frieden, aber es gab Massendeportationen. Unsere Kultur wurde unterdrückt, die Eliten wurden eliminiert. Ein solcher "Frieden" bedeutet nicht, dass das Leiden der Menschen aufhört.

STANDARD: Sie sprechen von der Zeit der kommunistischen Diktatur. Vor zwei Jahren warnten Sie früh vor einem Krieg in der Ukraine, dem Angriff Russlands, so wie es auch die polnische Regierung tat. Hat man Sie bei den EU-Partnern im Westen nicht verstanden?

Kallas: Man hatte uns hinter dem Eisernen Vorhang lange vergessen, als 1945 der Krieg vorbei war. Ihr habt über uns nicht lange nachgedacht, so wie wir nicht über euch. Meine Vorfahren waren baltische Deutsche, einige sind nach Österreich emigriert. Ihr Leben war so viel besser als unseres in Estland. Als wir 2022 zur Ukraine warnten, wurden wir als russophob bezeichnet. Inzwischen haben alle verstanden, dass wir recht hatten.

STANDARD: Dass Wladimir Putin ganze Länder usurpieren will?

Kallas: Der entscheidende Punkt ist: Was kann die russische Aggression stoppen? Darauf muss man achten. Als der Krieg im Februar 2022 begann, war das für alle ein Schock. Aber wir haben es dann doch geschafft, die Einheit zu wahren, auch wenn nicht alle Staaten die Dinge gleich beurteilen.

STANDARD: Woran lag das?

Kallas: Nicht alle Länder geben gleich viel für Verteidigung aus. 1980 gaben noch alle Nato-Staaten zwei Prozent ihrer Wertschöpfung für Verteidigung aus. Die Bedrohung war real. Heute tun das nicht alle, weil sie die Bedrohung nicht spüren. Aber sie ist auch heute real. Was löst eine Bedrohung aus? Wenn eine Seite glaubt, dass die andere Seite schwächer ist. Deshalb ist es so wichtig, dass wir aufrüsten, damit Russland nicht den nächsten Schritt macht.

STANDARD: Fürchten Sie einen Angriff Russlands gegen Estland?

Kallas: Nein, schauen Sie auf die Nato. Wir sind in der Nato. Wir haben den Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, wonach eine Attacke gegen ein Land als Angriff gegen alle gilt. Von 1991 bis 2021 sind die Militärausgaben der Nato-Länder um 19 Prozent gestiegen, die in Russland um 292 Prozent und die in China um 590 Prozent, in den USA um 60.

STANDARD: Das bedeutet, Europa muss aufrüsten?

Kallas: Europa ist ein so kleiner Kontinent, da können sich die Dinge rasch ändern. Nehmen Sie Österreich. Der Krieg in der Ukraine ist Österreich viel näher als uns in Estland, rein geografisch. Wenn wir alle gemeinsam nicht genug tun, um in Verteidigung zu investieren, in gemeinsame Fähigkeiten und Kapazitäten, dann könnte die Führung in Russland zur Einschätzung gelangen, sie könne einen Schritt weitergehen. Aber wenn sie sagen müssen, die sind stärker, werden sie keinen Krieg beginnen.

Der Krieg in der Ukraine werde noch lange dauern, glaubt Kaja Kallas. Die Führung in Moskau habe unterschätzt, wie stark die Ukraine militärisch sei.
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STANDARD: Wurde der Krieg Russlands gegen die Ukraine Ihrer Einschätzung nach deshalb begonnen?

Kallas: Genau das ist in der Ukraine passiert. Die Führung in Moskau hat aber unterschätzt, wie stark die Ukraine ist. Sie glaubte an einen leichten Sieg in kurzer Zeit. Das ist mein Punkt. Es hängt nur von uns ab, ob wir stark genug sind.

STANDARD: Wie beurteilen Sie an dieser Stelle den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland?

Kallas: Das ist absolut wichtig. Es macht die Nato stärker. Es schafft ein neues Kraftzentrum im Norden. Für uns in Estland, die wir keine Insel sind, heißt das, das Meer ist jetzt ein Meer der Nato. Die Allianz ist viel stärker geworden, also absolut auch die Solidarität. Warum haben Schweden und Finnland diesen Schritt gesetzt? Weil die Bedrohung real ist. Warum hat Russland die Ukraine attackiert und nicht die baltischen Staaten? Weil wir in der Nato sind. Ich erkläre das in Schulen oft so: Wenn du viele starke Freunde hast, wird dich ein Rabauke nicht angreifen.

STANDARD: Wie sehen Sie das dann für Österreich? Sollte das Land die Solidarität über die Neutralität stellen, der Nato beitreten?

Kallas: Österreich, das ist für mich faszinierend. Wir haben völlig verschiedene Perspektiven. Wir waren früher beide neutral. Aber nur bei Österreich hat sich dieses Versprechen gehalten. Estland war neutral, wurde aber von zwei Großmächten überfallen und besetzt. Ich bezweifle, dass die Neutralität schützt, wenn es in Europa Krieg gibt.

STANDARD: Österreich hat in der Verfassung, dass es seine Neutralität bewaffnet schützt.

Kallas: Neutral zu sein bedeutet aber nicht, dass man dafür auch die Verteidigung ausbaut. In der Nato hängt alles von allen ab. Alle sollen zwei Prozent der Kosten übernehmen. Ich verstehe, dass es sehr schwer ist, der Bevölkerung in Friedenszeiten zu erklären, warum sie für die Verteidigung viel Geld ausgeben soll oder gar in eine Militärallianz einzahlt. Ich könnte als Premierministerin auch sofort Dinge nennen, wofür man sonst besser Geld ausgeben kann.

STANDARD: Was meinen Sie?

Kallas: Wieder das Beispiel Estland. 1933 waren die Verteidigungsausgaben so niedrig wie nie. Es war friedlich, wie heute in Österreich. 1938 hat man die Militärausgaben zwar um hundert Prozent erhöht, aber es war zu spät. Wir verloren unsere Unabhängigkeit. Wenn man nur gute Nachbarn hat, wie Österreich heute, hat man nicht das Verständnis dafür. Aber das kann sich schnell ändern.

STANDARD: Einfache Frage: Soll Österreich der Nato beitreten?

Kallas: Es ist eine unabhängige Entscheidung Ihres Landes, die ich voll respektiere. Aber Österreich hat viel für die Ukraine getan, etwa durch Beiträge in der EU-Friedensfazilität, hat seine Beiträge geleistet.

"Ich bezweifle, dass die Neutralität Österreich schützt, wenn es in Europa Krieg gibt", sagt die estnische Premierministerin.
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STANDARD: Wird 2024 für das Schicksal der Ukraine entscheidend?

Kallas: Der Krieg dauert an. Wir sollten nicht in verschiedene Fallen hineinlaufen, die da aufgestellt sind. Ein Irrtum ist zu glauben, dass man den Krieg rasch gewinnen könnte. Russland stellt sich auf eine lange Periode des Kriegs ein. Er wird so lange dauern, bis Russland einsieht, dass es nicht gewinnen kann. Es gibt auch eine zweite Falle, den Glauben, dass man Frieden verhandeln könne. Wenn wir den Landraub akzeptieren, würden die Bedürfnisse von Russland befriedigt. Es ist nicht wahr, dass dann plötzlich alles friedlich wäre.

STANDARD: Warum?

Kallas: Es gibt auch die Falle der Angst. Russland spielt damit. Die vierte Falle liegt bei uns selbst, wenn wir sagen würden, unsere Maßnahmen würden die Russen nur weiter provozieren. Das Gegenteil ist der Fall. Schwäche provoziert Russland, nicht Stärke.

STANDARD: Kann die Ukraine 2024 verlorengehen, als souveränes Land verschwinden, weil Russland gewinnt?

Kallas: Die entscheidende Frage in einem Krieg ist, ob man genug Munition hat. Deshalb haben wir die Lieferung von einer Million Artilleriegranaten beschlossen. Die Ramstein-Koalition hat dreizehnmal so viel Budget wie Russland. Wir sind stärker, müssen aber der Ukraine helfen, sich zu verteidigen, ihnen geben, was sie brauchen. Und wir müssen an einen Sieg der Ukraine glauben, nicht das Narrativ, dass Russland sowieso gewinnt. Russland will uns glauben machen, dass die Ukraine nicht gewinnen kann, damit wir die Unterstützung einstellen.

STANDARD: Was wäre die Folge?

Kallas: Wir wären in einer Welt, in der die Macht bestimmt und nicht das Recht. Das ist sehr gefährlich. Ein Aggressor weckt dann andere Aggressoren. Wir würden dann erleben, dass in anderen Regionen, in anderen Teilen der Welt das gleiche passiert.

"Russland will uns glauben machen, dass die Ukraine nicht gewinnen kann", in diese Falle dürfe man nicht tappen, sagt Kallas.
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STANDARD: Befürchten Sie, dass sich die USA von Europa abwenden, sollte Donald Trump im November wieder Präsident werden?

Kallas: Wahlen sind immer turbulente Zeiten. Wir müssen mit den Alliierten weiterarbeiten, egal wen sie in ihre politische Führung wählen. Wir haben überlebt, als Donald Trump zum ersten Mal die USA führte. Wir würden es auch diesmal überleben, wenn es dann dazu kommt. Aber wir müssen schon jetzt, vor diesen US-Wahlen, alles für unsere eigene Verteidigung tun.

STANDARD: Auch in der EU gibt es Wahlen. Was erwarten Sie, einen Rechtsruck im Europäischen Parlament?

Kallas: In der Ukraine gibt es einen konventionellen Krieg, aber auch einen Schattenkrieg Russlands gegen unsere Gesellschaft. Es machte uns abhängig von Energie und nutzte das aus. Es gibt russische Desinformation zur Destabilisierung unserer Demokratien. Es wird also schwierig sein, die Stabilität zu wahren. Die Werkzeuge, die extreme Rechte anwenden, richten sich nicht nach den Regeln, die in unseren Verfassungen stehen.

STANDARD: Was können gemäßigte Parteien dagegen tun?

Kallas: Wir sollten nicht die Narrative der extrem Rechten übernehmen und sie damit zum Mainstream machen. Wir müssen unsere Demokratie auf allen Ebenen verteidigen. Demokratie braucht Vertrauen. Wenn dieses Vertrauen bei der Bevölkerung fehlt, gibt es Probleme bei Wahlen, dahingehend, wer dann an die Macht kommt.

STANDARD: Es gibt mit Ursula von der Leyen an der Spitze der Kommission und Roberta Metsola im EU-Parlament zwei Frauen, die wichtige EU-Institutionen führen. Sie waren einmal EU-Abgeordnete, wäre es für Sie reizvoll, wenn Sie Präsidentin des Europäischen Rates würden?

Kallas: Die Diskussion darüber wird nach den Wahlen geführt werden. Ich war sehr gern Europaabgeordnete, diese Vielfalt an Geschichte und Kulturen in Europa, das ist so faszinierend, anderen zuzuhören und selbst gehört zu werden. Ich würde für mich auf der europäischen Ebene absolut nichts ausschließen. Ich liebe Europa. (Thomas Mayer, 11.2.2024)