Interessanter Newcomer Nitai Hershkovits.
Interessanter Newcomer Nitai Hershkovits.
Caterina Di Perri / ECM Records

Keith Jarrett muss einen düsteren Tag erwischt haben, als er sagte: "Das Klavier ist ein romantisches Instrument, und eines meiner Probleme besteht darin, dass ich das Klavier nicht mag." Übler Tag, weil: Wie kaum ein anderer hat der Romantiker unter den Jazzmusikern das Klavier ab den 1970ern geprägt. Durch sein besessenes Sich-Hineingraben in Tunes definierte er das Instrument als Altar der Ekstase und sich als Medium, durch das hindurch Musik aus einer geheimnisvollen Sphäre in die Tasten floss.

Die historische Mauer der maßstabsetzenden Stilideen, die Jarrett individuell durchstieß, war gewaltig: Bud Powell, Art Tatum, Oscar Peterson, Cecil Taylor, Thelonious Monk, Bill Evan und der mittlerweile 89-jährige Abdulah Ibrahim verengten quasi das Spielfeld für individualistische Nachfolger. Ob im Mainstream, Bebop oder durch freies Spiel.

Avantgarde-Veteranin Myra Melford.
imago images/Rafael De La Cámara

Wo ist der Freiraum?

Jarrett, der nach Schlaganfällen nicht mehr konzertiert, fügte – die Tradition neu befragend – eine spezielle Tiefe der Aufopferung hinzu, geboren auch aus dem wahnwitzigen Anspruch eines Komponierens in Echtzeit. Was aber bleibt für die nun jüngere und mittlere Generation an Freiraum? Neben Jarrett waren u. a. ja auch Chick Corea und auch Gery Allen prägend.

Aktiv sind noch Klassiker wie Herbie Hancock oder die Avantgardepianistin Myra Melford. Im Trio hatte auch – über die Integration von Elektronik – der Schwede Esbjörn Svensson neue Facetten eingebracht, bevor er bei einem Tauchunfall starb. Und: Elektronik konnte zudem der in der afroamerikanischen Tradition stehende Pianist Jason Moran reizvoll einsetzen.

Annäherung an Klassik

Rund um den aktuellen Klavierstar Brad Mehldau gruppieren sich allerdings doch einige Individualisten, die das Unverwechselbare auch in einer Annäherung an die Klassik suchen. Mehldau schrieb Liederzyklen für Bariton Ian Bortridge. Pianist Ethan Iverson (unlängst im Porgy) präsentiert auf seiner Neuheit Every Note Is True sogar eine dreisätzige Klaviersonate. Selbige sei "ausnotiert, wie bei Mozart oder Beethoven, belebt durch mein erlebtes Vokabular als Jazzmusiker des 21. Jahrhunderts", erklärt der US-Pianist, der mit seinem Trio The Bad Plus einst schon Barry Manilows Mandy-Schnulze dekonstruierte.

Jazz mit Romantik

Überraschend subtil demonstriert zurzeit der Israeli Nitai Hershkovits (unlängst im Porgy) seine abstrakte Klassiknähe. Seine erste Solo-Einspielung auf ECM Call on the Old Wise vermittelt einen raffinierten Klaviergrübler, der Jazz mit romantischer Atmosphäre verbindet. Nähe zur Klassik als individuelles Merkmal? Eine singuläre melodische Begabung entfaltet sich hier, als ginge es darum, auch russischen Klavierklassikern wie Rachmaninow und Skrjabin nachzueifern.

Vijay Iyer, versunken in der Musik.
Vijay Iyer, versunken in der Musik.
imago/Pacific Press Agency

Stücke von Skrjabin hat Vijay Iyer sicher auch schon gespielt. Wobei: An ihm ist ein weiteres Merkmal der Generation nach Jarrett zu beobachten: Es sind keine Vorbehalte gegen populäre Songgenres zu bemerken. So steht auf seinem Menüplan auch Michael Jacksons Human Nature neben Epistrophy von Thelonious Monk. Pianist Iyer, 1971 in den USA geborener Sohn indischer Einwanderer, hat auch auf seiner Neuheit Compassion Stevie Wonders Overjoyed im Repertoire wie auch Nonaah, ein Stück des Avantgardeklassikers Roscoe Mitchell.

Im Porgy gibt es Beispiele

Keiner ist mehr eine hermetisch abgeriegelte Musikinsel; auch auf Iyer trifft zu, was der interessante deutsche Pianist Michael Wollny sagt: "Jeder Mensch ist von sehr viel Musik umgeben, diese Musik wird irgendwo im Inneren abgelegt", und hoffentlich individuell ausgelebt. Im Porgy & Bess kann man immer wie Beispiele erleben. Am Montag hört man etwa den leider selten auftretenden Pianisten Peter Ponger im Trio. Später (26. Februar) den subtilen, freitonal agierenden Georg Gräwe, der seine neue Einspielung Nothing Personal präsentiert. Mit garantiert persönlicher Handschrift. (Ljubiša Tošić, 9.2.2024)