Vier junge, mehrgewichtige Frauen im Bikini am Strand
Werden mehrgewichtige Menschen in Medien dargestellt, sieht man oft nur den Körper. Man nennt das Headless Fatty Syndrome. Dabei sind positive Vorbilder extrem wichtig.
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Mehrgewicht und Medizin sind ein belastetes Duo. Hat eine mehrgewichtige Person ein medizinisches Problem, wird es sehr oft sofort auf diese Tatsache geschoben. Das ist aber vielfach falsch und kann fast schon gefährliche Folgen haben. Denn Patientinnen und Patienten fühlen sich nicht ernst genommen, vor allem wenn sie aus einem ganz anderen Grund in die Ordination gekommen sind. Und es kann dazu führen, dass sie Arztbesuche vermeiden, um nichterbetenen Tipps oder Kommentaren aus dem Weg zu gehen. Das wiederum kann bewirken, dass gesundheitliche Probleme verschleppt werden, was dann die Vorurteile gegenüber Mehrgewichtigen zu bestätigen scheint.

Wie schafft man es, aus diesem Teufelskreis, der allen Beteiligten schadet, herauszukommen? Diese Frage hat sich Plus-Size-Expertin Bobby Herrmann-Thurner gestellt. Sie will aufklären und organisiert Podiumsdiskussionen zu unterschiedlichen Aspekten des Themas. Über "Fett in der Medizin – Gesundheit vor Gewicht?" wird am 15. 2. im Brick im 15. Wiener Bezirk diskutiert. Auf dem Podium sitzt auch die Internistin und Adipositas-Expertin Bianca Itariu. Im STANDARD-Doppelinterview erzählen die beiden, wie die Gesellschaft Mehrgewichtigen begegnet und warum eine Spritze das nicht ändern wird.

STANDARD: Warum ist Gewicht so ein Thema in unserer Gesellschaft?

Itariu: Das ist kulturell und historisch wirklich tief verwurzelt und hat auch einen religiösen Kontext. In der katholischen Vorstellung zählt Völlerei, womit Dicksein assoziiert ist, zu den Todsünden. Im Protestantismus wiederum sollte sich das Bauernvolk zurückhalten, seine gesellschaftliche Rolle war brav arbeiten und genügsam sein. War man dick, wurde das identifiziert mit aus der Reihe tanzen, ungehorsam sein.

Das wirkt bis heute nach, jetzt kommt noch der Fokus auf die Gesundheit dazu. Und das beginnt schon in der Volksschule. Ich habe zum Beispiel meiner Tochter ein Jausenbrot mit einem Schnitzel mitgegeben. Die anderen Kinder haben sie richtiggehend gemobbt, weil das so ungesund sei. Es war so heftig, dass sie das Schnitzel weggeworfen hat. Umgekehrt wurde ein anderes Mädchen gemobbt, weil sie gerne Fenchel isst. Mobbing wegen Essen, das ist für mich wirklich neu. Es wurde dann ausführlich in der Klasse besprochen.

Herrmann-Thurner: Wobei Essen nur ein Aspekt ist. Es geht in Wirklichkeit noch um viel mehr, und das fängt eben schon bei den Kindern an. Essen ist die eine Sache, die man Mehrgewichtigen in der Öffentlichkeit verbietet. Das darf man nicht, weil man hatte ja schon genug davon im Leben. Es ist mir nicht nur einmal in Restaurants passiert, dass der Kellner gesagt hat, ich brauche doch keinen Nachtisch, ich hatte ja schon genug.

Gleichzeitig zeigt es, dass Kinder schon sehr früh mit Schönheitsidealen und bestimmten Vorstellungen konfrontiert werden, das verstärkt sich weiter bei den Jugendlichen. Magazine und Social Media geben vor, wie man zu sein hat, die Mode orientiert sich an diesen Schönheitsidealen. Dadurch kann von Anfang an ein gestörtes Verhältnis zum Essen entstehen, Kinder und Jugendliche lernen gar nicht mehr, was ihrem Körper guttut. Darauf müsste man dringend schon in der Schule reagieren.

Bobby Herrmann-Thurner
Bobby Herrmann-Thurner (43) ist Politikwissenschafterin und gründete 2015 "Curvect – Österreichs erstes Plus-Size-Blogazine". Sie beschäftigt sich seit Jahren mit der Welt mehrgewichtiger Menschen.
Ursula Schmitz

STANDARD: Also Fatshaming als System der Unterdrückung?

Herrmann-Thurner: Absolut. Das Fatshaming hat auch eine rassistische Seite. Die sogenannte weiße Oberschicht hat sich Diäten verschrieben und Maßhalten propagiert, während zeitgleich im Sklavenhandel schwarze Menschen abgewertet wurden. Vor allem die Körper schwarzer Frauen wurden als fett, wild und maßlos gesehen und stigmatisiert. Das wirkt sich bis heute aus. Auch aus feministischer Perspektive spielen Körperformen und -maße immer wieder eine Rolle. Suffragetten, die um das Frauenwahlrecht kämpften, hat man lächerlich gemacht und verunglimpft, etwa indem man sie als dick karikiert hat. Um dem entgegenzuwirken, haben sie ein schlankes Ideal propagiert.

Dazu kommt, dass es praktisch keine positiven Vorbilder gibt. Achten Sie einmal auf die bildliche Darstellung von Mehrgewichtigen in den Medien. Da sieht man sehr oft nur den Körper, aber kein Gesicht. Man nennt das das Headless Fatty Syndrome.

STANDARD: Stimmt, da müssen wir Selbstanzeige machen. Das ist auch im STANDARD schon passiert. Woran liegt das?

Herrmann-Thurner: Das hat mit etablierten Schönheitsidealen zu tun. Dabei ist das doch absurd, man findet ja auch nicht alle schlanken Menschen attraktiv.

Itariu: Es gibt definitiv ein optisches Framing, in Filmen zum Beispiel. Denken Sie einmal an "Vom Winde verweht", da ist die schlanke Scarlett O'Hara und ihre dicke Sklavin. Oder in Disneyfilmen, bis Anfang der Nullerjahre waren da ausschließlich die Bösen mehrgewichtig. Die Hexe Ursula in "Arielle" zum Beispiel oder der böse Geist bei "Aladdin". Die Heldin dagegen ist superdünn und zierlich.

Herrmann-Thurner: Ursula ist ja mittlerweile eine Ikone. Diese Zuordnung zeigt aber auch die gesellschaftliche Rolle der Frau. Je schlanker man ist, desto mehr entspricht man, desto leichter ist man lenkbar. Die dicken Bösewichte kann man viel schwerer kontrollieren, sie sind schwierig, exzentrisch und launisch. Ich finde das nicht Angepasste ja großartig, aber so sehen das eben nicht alle.

STANDARD: Aber ist Mehrgewicht nicht ein gesundheitliches Problem? So wird ja oft argumentiert ...

Itariu: Ja und nein. Viele Kolleginnen und Kollegen sagen, Adipositas, das ist ja einfach in der Diagnose, das sieht man schon, wenn jemand bei der Tür hereinkommt. Das stimmt aber nicht, es ist viel komplizierter. Man kann eine Krankheit nur sehr selten nur durch Hinschauen diagnostizieren. Da könnte ich auch sagen, die Person hat einen roten Kopf, also muss sie Bluthochdruck haben.

Ein gesundheitliches Problem muss ich immer mit Test, Blutbild, bildgebenden Verfahren und mehr absichern. Die Reduktion auf den Body-Mass-Index sehe ich als wirkliches Problem. Es stimmt schon, dass der in Bezug auf die Gesellschaft einen Überblick geben kann, was als gesund gilt und ab wann das nicht mehr der Fall ist. Aber er sagt nichts über die einzelne Person und ihre Gesundheit aus, ganz abgesehen davon, dass diese Einteilung rassistisch und sexistisch ist. Im Grunde bietet er der Gesellschaft eine weitere Möglichkeit zur Diskriminierung, unter dem Deckmantel der Sorge um die Gesundheit. Ich habe zum Beispiel genug normalgewichtige Patienten, die viel kränker sind als viele Mehrgewichtige.

All das führt aber zu einer systematischen Diskriminierung. Das beginnt damit, dass die Möbel in einer Praxis, Liegen etwa, nicht für Mehrgewichtige passen. Menschen mit einem BMI über 35 bekommen akut keine Organtransplantation, sie müssen zuerst abnehmen. Mehrgewichtige Menschen, die einen außerklinischen Herzstillstand haben, werden im Krankenhaus womöglich nicht an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, mit dem Argument, das bringe ja eh nichts. All das erhöht aber die Mortalität. Es ist also wirklich komplex.

Bianca-Karla Itariu
Bianca-Karla Itariu (40) ist Expertin für Adipositas und Stoffwechselstörungen. Bis März 2023 leitete sie die internistische Adipositas-Ambulanz am AKH Wien, heute ist sie in eigener Praxis tätig.
Alexander Jürets

Herrmann-Thurner: Das wurde auch wissenschaftlich untersucht, ich habe mir wirklich viele Studien dazu angeschaut. Da zeigt sich klar, man sieht uns erst, wenn wir ein Problem für das System werden, also ein Kostenfaktor. Davor kümmert sich niemand um die Mehrgewichtigen. Dazu kommt, dass man in der Sekunde, in der einen das Gegenüber anschaut, auch beurteilt wird, das berichten ganz viele im Gespräch. Sobald ich etwa als Mehrgewichtige die Türe in eine Ordination öffne, muss ich mich wappnen. Dazu gibt es auch eine Untersuchung von der Frauengesundheit Wien. Und diese Vorverurteilung macht sehr viel sehr viel schwerer.

Ich erlebe das ja auch selbst. Ich hab zum Beispiel bei einer Ärztin meine Venen anschauen lassen. Meine Venenklappen funktionieren bestens, aber gegen Ende der Untersuchung hat sie mir gesagt, ich könnte doch zu ihrer Kollegin nebenan gehen, die macht Magenbypässe, das sollte ich mir vielleicht einmal anschauen. Dabei kannte sie nicht einmal meinen Blutdruck, geschweige denn sonst irgendeinen Gesundheitsparameter.

Ich negiere das Thema Gesundheit nicht. Ich bitte aber darum, hinzuschauen, woher die Probleme wirklich kommen. Die Diskriminierung im Gesundheitssystem ist etwas, das Angst macht. Und weil man sich dieser Situation womöglich nicht aussetzen will, vernachlässigt man erste Dinge. Man denkt sich dann vielleicht, ach, dieses Herzklopfen beim Aufstehen, das ist eh nicht so schlimm, und lässt es nicht anschauen. Mit der Konsequenz, dass dann etwas viel Schlimmeres daraus werden kann. Das ist nicht nur persönlich tragisch, genau deshalb wird man womöglich irgendwann tatsächlich zu einem medizinischen Kostenfaktor.

STANDARD: Das klingt nicht gut für mehrgewichtige Personen ...

Herrmann-Thurner: Nein, dieser intrinsische Bias, den wir ja auch uns selbst und unserer Gesundheit gegenüber haben, der tut uns nicht gut. Man denkt sich ja selbst oft genug, ich kann das nicht, ich kann zum Beispiel diesen Sport nicht machen, weil ich bin zu dick dafür. Und dieses Gefühl gibt es in ganz vielen Situationen. Viele wissen etwa nicht, wo sie die richtige Kleidung herbekommen, für Sport, für ein Bewerbungsgespräch, für ein gesellschaftliches Event. Viele Mehrgewichtige haben nicht das Gefühl, sie seien ein wertvoller Teil der Gesellschaft. All das erzeugt aber Stress. Und Stress ist so ziemlich das Ungünstigste, was man seinem Körper antun kann.

Da spielt so viel zusammen, man kann den medizinischen Bereich einfach nicht vom Rest trennen. Es heißt zum Beispiel oft, dass Mehrgewichtige häufiger Depressionen haben. Klar, weil die gesellschaftliche Teilhabe nicht immer einfach ist, wird man leichter einsam. Und Einsamkeit wiederum kann zu Depressionen führen. Die kommen also nicht unbedingt daher, dass man fett ist, sondern weil man diskriminiert wird.

Itariu: Das Narrativ zu Mehrgewichtigen muss sich auch in der Medizin ändern, und das muss schon im Studium beginnen. Ich erkläre etwa meinen Studierenden, wenn im Arztbrief steht "Gewichtsreduktion dringend empfohlen", womöglich mit einer Reihe Rufzeichen, dann darf es nicht dabei bleiben. Da gehört auch ein Plan dazu, wie das gelingen kann. Und man darf das auch nur dann reinschreiben, wenn genau das in der Untersuchung Thema war. Es kann nicht sein, dass jemand mit Halsschmerzen kommt, und man sagt als Arzt oder Ärztin der Person, sie soll abnehmen, ohne dass das Thema vorher respektvoll angesprochen wurde.

STANDARD: Mittlerweile gibt es vielversprechende Medikamente für Mehrgewichtige. Wie beurteilen Sie die?

Herrmann-Thurner: Ein Medikament löst nicht die strukturelle, gesellschaftliche, systemische Diskriminierung. Deshalb ist das eine zweischneidige Sache. Die einen sagen dann, na, jetzt gibt es eh was, nimm doch das. Andere sagen, ah, mit dem Medikament machst du es dir leicht, weil du keinen Sport machen willst. Also irgendwie macht man es immer falsch. Dazu kommt, dass die Medikamente teuer sind und nur sehr selten von der Kasse übernommen werden. Dabei sind, generell gesprochen, mehrgewichtige Menschen oft auch die, die sozioökonomisch schlechter dastehen. Auch deshalb, weil sie bei der Jobsuche diskriminiert werden.

Itariu: Diese Abnehmmedikamente sind an sich recht sicher und können bei bestimmten Indikationen gut helfen. Aber es ist eine Dauertherapie, und das ist nicht sehr sexy. Sehr oft werden sie außerdem nicht erstattet, ich diskutiere regelmäßig mit der Gesundheitskasse deswegen. Der darum entstandene Hype ist dabei nichts anderes als eine mediale Auseinandersetzung mit dem Thema Mehrgewicht. Das ist irgendwie eine Chance, weil es manche Leute dazu animiert, für die Erstattung des Medikaments zu kämpfen. Aber seine tatsächliche Wirkmacht wird dadurch stark übertrieben.

Herrmann-Thurner: Solange sich das System in Summe nicht ändert, auch durch Vorgaben der Politik, werden auch Medikamente gesamtgesellschaftlich keine Veränderung bringen. (Pia Kruckenhauser, 13.2.2024)

Video: Fatshaming: Gesund muss nicht unbedingt dünn bedeuten.
DER STANDARD