Welle im Meer
Die Zirkulationen im Atlantik sind entscheidend für das globale Klimageschehen.
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Schon seit Jahren mehren sich die Anzeichen, dass sich der Golfstrom im Zuge der Klimaerwärmung deutlich verlangsamt. Der Golfstrom ist Teil einer riesigen Umwälzpumpe im Atlantik: Die sogenannte meridionale Umwälzzirkulation (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC) ist entscheidend für die Regulierung des globalen Klimas und sorgt unter anderem dafür, dass in Europa relativ milde Temperaturen herrschen (siehe Infobox weiter unten).

Ein Stillstand dieses komplexen Strömungssystems hätte verheerende Folgen. Wie diese aussehen könnten, hat sich unter anderem der Katastrophen-Blockbuster "The Day after Tomorrow" bildgewaltig und etwas überzeichnet ausgemalt: Der Film, der vor genau 20 Jahren die Kinos überschwemmte, verhandelte unter anderem, dass der Golfstrom aufgrund der schmelzenden Polkappen derart an Salz verlieren könnte, dass die Zirkulation unterbrochen würde und eine neue Eiszeit folgen könnte.

Sedimentanalysen, die Einblick in die letzten 100.000 Jahre geben, legen nahe, dass die Umwälzpumpe in der Vergangenheit bereits zum Erliegen kam. Der letzte Zusammenbruch des Strömungssystems vor etwa 12.000 Jahren löste die Jüngere Dryaszeit, eine etwa 1.000 Jahre andauernde Kälteperiode rund um den Nordatlantik, aus. Die Wissenschaft warnt schon länger, dass ein neuerlicher Kipppunkt bevorstehen könnte. Im Vorjahr prognostizierten dänische Forscher einen Kollaps des Golfstroms zwischen 2025 und 2095. Der Weltklimarat IPCC ging hingegen von einer längerfristigen Stabilität der Zirkulation aus.

Kipppunkt rückt näher

Nun hat ein niederländisches Forschungsteam einen entscheidenden Schritt gesetzt, um den Kipppunkt und die Signale, die ihm vorausgehen, festzumachen. Aus den bislang detailliertesten Computersimulationen zu den Mechanismen des AMOC schließen sie, dass wir uns dem Kipppunkt des Strömungssystems nähern – auch wenn es noch nicht möglich sei, den genauen Zeitpunkt vorauszusagen. "Wir bewegen uns in Richtung des Kollaps, aber wir sind nicht sicher, wie nahe wir sind", drückt es der Klimaforscher René van Westen von der Universität Utrecht aus.

Die Studie, die im Fachblatt "Science Advances" veröffentlicht wurde, hat erstmals einen Indikator gefunden, an dem sich ein möglicher Kollaps ablesen lässt, nämlich der Salzgehalt des Wassers, das den südlichen Atlantik passiert, in etwa auf Höhe der Südspitze von Afrika. Je mehr Frischwasser aus der fortschreitenden Eisschmelze und erhöhten Niederschlägen in das atlantische Strömungssystem gelangt, desto weiter sinkt der Salzgehalt. Das wiederum bremst den Motor der Strömungen, was schließlich zu einem kompletten Kollaps führen könnte. Sechs Monate lang wurde auf Supercomputern mithilfe historischer Daten und neuester Klimamodelle durchgerechnet, was eine langsame Veränderung des Salzgehalts – über einen Zeitraum von mehr als 2.000 Jahren – bewirken würde. Im Gegensatz zu bisherigen Untersuchungen wurde die Verdünnung extrem langsam simuliert, um den Kipppunkt zu bestimmen.

PIK, DER STANDARD

"Was uns überraschte, war die Geschwindigkeit, mit der der Kipppunkt eintritt", sagte Hauptautor van Westen dem "Guardian". Auch wenn es noch nicht genug Daten gebe, um zu sagen, ob diese Wende im nächsten Jahr oder erst im nächsten Jahrhundert passiert – wenn es so weit sei, seien die Auswirkungen unumkehrbar.

Kältewelle über Europa

Besonders das nördliche Europa zwischen Großbritannien und Skandinavien wäre von einem abrupten Kollaps der Strömungen betroffen, wie die Forschenden simuliert haben. Weil 75 Prozent der Wärme nicht mehr von Süden nach Norden transportiert würden, käme es zu einem empfindlichen Temperaturabfall, je nach Region zwischen fünf und zehn Grad Celsius innerhalb eines Jahrhunderts. Als Beispiel nennen die Forschenden die norwegische Stadt Bergen, deren Februartemperaturen um rund 3,5 Grad pro Jahrzehnt sinken würde. Das wäre auch im Vergleich mit der Erderwärmung durch den Klimawandel ein rasanter Wandel.

In der südlichen Hemisphäre hingegen würden sich die Temperaturen erhöhen, außerdem würde der Meeresspiegel in manchen Regionen um bis zu einen Meter steigen. Hinzu kommen weltweit veränderte Niederschlagsmuster, was fatale Auswirkungen insbesondere auf den Amazonas hätte.

All diese Effekte eines AMOC-Zusammenbruchs seien längst bekannt, aber noch nie in einem so ausgefeilten Klimamodell dargestellt worden, sagt Stefan Rahmsdorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, der nicht an der Studie beteiligt war. Mit dem Frühwarnsignal hätten die niederländischen Forschenden erstmals ein physikalisch basiertes Diagnoseinstrument vorgeschlagen. Die Studie bestätige Sorgen, dass die gängigen Klimamodelle die Stabilität des atlantischen Zirkulationssystems überschätzten. "Das Risiko eines Kollaps muss um jeden Preis verhindert werden", sagt Rahmstorf. "Wenn wir ein definitives Warnsignal haben, wird es zu spät sein, etwas dagegen zu tun."

Plötzlicher Zusammenbruch

Wann es so weit sein wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Die Einschätzung der dänischen Studie aus dem Vorjahr, dass der Golfstrom zwischen 2025 und 2095 kippen könnte, halten auch die niederländischen Forscher für zutreffend. Dass wir auf einen Kollaps zusteuern, sei aus bereits vorhandenen Beobachtungsdaten aus dem Südatlantik ablesbar. Insbesondere der Klimawandel bewirke eine immer stärkere Verlangsamung, sagt René van Westen. Wenn ein gewisser Punkt erreicht sei, gebe es aber keine graduelle Verlangsamung, sondern einen relativ plötzlichen Zusammenbruch innerhalb von weniger als 100 Jahren.

Der renommierte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber, Leiter des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse in Laxenburg bei Wien, hält die Arbeit des niederländischen Forscherteams für "bahnbrechend". Einen langfristigen Effekt erwartet er aber nicht: "Wenn der Golfstrom kollabieren würde, würde das in West- und Mitteleuropa eine heftige Abkühlung auslösen. Dennoch wäre das nur ein regionaler und mittelfristiger Effekt, der von der globalen Erwärmung wieder aufgefressen werden würde", sagte Schellnhuber dem STANDARD (ein ausführliches Interview erscheint am kommenden Mittwoch).

Für René van Westen ist ohnehin klar: "Wir müssen den Klimawandel ernster nehmen. Wir, als globale Gesellschaft, müssen die Emissionen stoppen." (Karin Krichmayr, 12.2.2024)