Biodiversität, Bauen
Werden in England künftig neue Straßen oder Häuser gebaut, muss davon die Biodiversität profitieren – etwa durch neue, artenreiche Wildblumenwiesen.
AP

Österreichs Böden haben schon einmal mehr Tageslicht gesehen. Zum Beispiel vor rund zwei Jahrzehnten, als sich die österreichische Bundesregierung das Ziel gesetzt hat, im ganzen Land nur noch 2,5 Hektar pro Tag zu versiegeln. Diese Vorgabe gilt zwar noch, ist aber in weite Ferne gerückt: Im Jahr 2022 lag der Bodenverbrauch im Schnitt bei rund zwölf Hektar pro Tag. Laut Berechnungen der Österreichischen Raumordnungskonferenz ist in Österreich in etwa eine Fläche in der Größe von Wien und Vorarlberg zugebaut.

Umweltschützerinnen und Forschenden ist der Flächenfraß schon länger ein Dorn im Auge. Dadurch gehen landwirtschaftliche Böden verloren, die Umgebung heize sich im Sommer stärker auf, das Überschwemmungsrisiko steige und die Artenvielfalt leide. Seit Jahren fordern sie deshalb Gegenmaßnahmen zur Verbauung.

Bodenverbrauch, Österreich
In Oberösterreich wurde 2022 besonders viel Boden versiegelt.

Verbessern statt schaden

Maßnahmen vielleicht, wie sie in England in den vergangenen Tagen umgesetzt wurden. Seit Montag gilt in dem Land ein neues Gesetz, das den Boden und die Biodiversität im Land besser schützen soll. Alle neuen größeren Bauprojekte, seien es Straßen oder Wohnsiedlungen, sollen der Natur nützen, anstatt ihr zu schaden. Demnach muss ein Unternehmen die durch ein Bauprojekt verlorene Biodiversität plus zehn Prozent entweder direkt vor Ort oder in einem anderen Gebiet im Land ausgleichen. Neue Straßen und Wohnungen sollen dadurch einen "netto positiven" Einfluss auf die Umwelt haben.

"Bis jetzt haben sich Projektentwickler kaum dafür interessiert, einen Beitrag zur Biodiversität zu leisten", sagt David Hill, der jahrelang selbst Umweltverträglichkeitsstudien für Unternehmen in Großbritannien durchgeführt hat. Das Resultat sei oft ziemlich ernüchternd gewesen, sagt der Ökologe. "Solange Unternehmen nicht verpflichtet werden, etwas zu tun, passiert kaum etwas."

Biodiversität messen

14 Jahre lang hat Hill bei der Regierung für das neue Gesetz lobbyiert, das nun umgesetzt wurde. Dieses soll Bauunternehmen schon von Beginn an dazu animieren, über die ökologischen Auswirkungen ihrer Projekte stärker nachzudenken. Jene Schäden an der Natur, die durch neue Infrastruktur oder Gebäude nicht verhindert oder minimiert werden können, müssen nicht nur "ausgeglichen", sondern "verbessert" werden. Wird beispielsweise für den Bau einer neuen Straße im Land ein Wald abgeholzt, muss eine andere Fläche in höherem Ausmaß aufgeforstet oder renaturiert werden.

Dafür wird bereits vor Baubeginn die Biodiversität der betroffenen Fläche gemessen, erklärt Hill. Je nachdem, um welche Art von Landschaft es sich handelt – etwa fruchtbares Ackerland oder Grünland –, in welchem ökologischen Zustand sich diese befindet, wie selten oder häufig sie im Land vorkommt und welche Tiere dort leben, erhält sie einen bestimmten Biodiversitätswert. Dieser Wert plus zehn Prozent muss entweder vom Bauunternehmen selbst rund um das Bauprojekt neu geschaffen und über mindestens 30 Jahre lang erhalten werden oder auf einer anderen Fläche im Land, beispielsweise durch den Kauf von Biodiversitätszertifikaten, ähnlich wie bei den bereits existierenden Emissionszertifikaten.

Einkommen für Landwirte

Von dem neuen Gesetz will auch Hill profitieren. Das von ihm gegründete Unternehmen Environment Bank verkauft Bauunternehmen solche Biodiversitätszertifikate – und verspricht, die Biodiversität anderenorts aufzubessern. Dafür arbeitet das Unternehmen mit Grundeigentümern, allen voran Landwirtinnen und Landwirten, in England zusammen, schließt Leasingverträge mit diesen ab, um auf bestimmten Flächen Renaturierungsmaßnahmen umzusetzen.

"Wir versuchen, vor allem wenig fruchtbares Ackerland, auf dem die Biodiversität und die Erträge niedrig sind, in Wald-, Feuchtgebiete oder Wildblumenwiesen zu verwandeln", sagt Hill – Ackerland, das ebenso wie in vielen anderen europäischen Ländern derzeit eine "grüne Wüste" sei. Der größte Mehrwert für die Artenvielfalt seien Wildblumenwiesen mit Buschland. Diese Naturräume bieten Lebensraum für besonders viele Tiere wie Insekten, Vögel und Reptilien. "Meist gelingt es bereits innerhalb von zehn Jahren, totes Ackerland in solche artenreiche Naturräume zu verwandeln."

1.000 Landwirtinnen und Landwirte haben sich laut Hill mittlerweile für das Projekt angemeldet. Für diese sei die Renaturierung auch eine Möglichkeit, zusätzliches Geld einzunehmen – einerseits durch den Leasingvertrag, andererseits durch regelmäßige Zahlungen, die sie von Environment Bank für die 30-jährige Renaturierung erhalten. Einmal im Jahr sollen Ökologinnen und Ökologen den Fortschritt messen.

Renaturierung, England
Landwirte in England können für Renaturierungsmaßnahmen künftig Geld erhalten.
AFP/BEN STANSALL

Naturschutz unterfinanziert

Nicht wenige Expertinnen und Experten sehen im neuen Gesetz in England, das solche Initiativen befördert, viel Potenzial, die Biodiversität im Land in den kommenden Jahren zu verbessern – und den ökologischen Fußabdruck vieler Bauprojekte zu verbessern. Wäre die Idee auch etwas für Österreich?

"Von diesem Ansatz kann sich Österreich einiges abschauen", sagt Franz Essl, Ökologe und Biodiversitätsforscher an der Universität Wien. Zwar gebe es auch hierzulande "Ausgleichsnotwendigkeiten" bei größeren Bauvorhaben wie Straßen oder Kraftwerken, die im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung umgesetzt werden müssen. Beispielsweise werden für den Bau des Koralmtunnels einige Fließgewässer in der Nähe des Bauprojekts, die in der Vergangenheit begradigt wurden, wieder renaturiert. Bei der Mehrzahl der Bauprojekte werden aber kaum ausgleichende oder verbessernde Maßnahmen gesetzt. "Da gibt es noch viel Luft nach oben."

Naturschutz sei in Österreich generell unterfinanziert – und das, obwohl der Flächenverbrauch in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zugenommen hat und die Artenvielfalt zurückgegangen sei. In Niederösterreich liegt das Naturschutzbudget in etwa bei 15 Millionen Euro, das Straßenbau- und -erhaltungsbudget hingegen bei 450 Millionen Euro, sagt Essl. "Das zeigt, was für eine Schieflage wir hierzulande haben." Wie in England auch den privaten Sektor stärker zu Biodiversitätszahlungen zu verpflichten, könnte vielleicht helfen, einen Teil dieses Defizits auszugleichen.

Kosten für Unternehmen

Azra Korjenic, Bauingenieurin und Professorin für ökologisches Bauen an der TU Wien, steht der Idee etwas skeptischer gegenüber. "Die Bauwirtschaft steckt derzeit durch die Inflation in einer tiefen Krise. Durch solche Gesetze neue Kosten für die Unternehmen zu verursachen, halte ich für nicht gut." Unternehmen müssten externe Expertinnen und Experten zahlen, Untersuchungen an Flächen durchzuführen, was nicht gerade günstig sei. Es sei nicht zu befürworten, wenn Projekte aufgrund solcher Anforderungen scheitern. Aufgrund von Kostenerhöhungen werden erfahrungsgemäß gerade die ökologischsten Projektteile als Erstes gestrichen, wie beispielsweise Gebäudebegrünung oder eine ökologischere Dämmung.

Stattdessen plädiert Korjenic dafür, Ausgleichsmaßnahmen zunächst auf motivierender, aber freiwilliger Basis durchzuführen. Projektteams können mithilfe von Checklisten mit Biodiversitätsindikatoren, die ausgearbeitet und allen zur Verfügung gestellt werden müssen, feststellen, wie hoch die Biodiversität an einem bestimmten Standort ist – und welche ausgleichenden oder verbessernden Maßnahmen umgesetzt werden können. Solche Maßnahmen können auch von der Öffentlichkeit und Kontrollinstitutionen leicht eingesehen werden. Erst, wenn alle mehr Erfahrungen damit gesammelt haben und die Grundlagen optimiert sind, könne über verpflichtende Maßnahmen nachgedacht werden.

Bauen, Nachhaltigkeit, Versiegelung
Bei neuen Bauprojekten gibt es immer wieder Zielkonflikte: etwa zwischen leistbarem Wohnraum und Umweltzerstörung durch Versiegelung.
Werner Kerschbaummayr / fotokers

Kontrollen fehlen

In England gibt es ebenfalls Kritik an dem neuen Gesetz. Während Renaturierungsmaßnahmen, die mittels Biodiversitätszertifikaten in einem anderen Teil des Landes umgesetzt werden, regelmäßig kontrolliert werden müssen, fehlt eine solche Vorgabe bei Renaturierungen, die das Unternehmen rund um das Bauprojekt umsetzen soll.

Eine kürzliche erschienene Studie kam zu dem Ergebnis, dass mehr als ein Viertel aller Biodiversitätswerte keine Verbesserungen für die Biodiversität bringen könnte, weil es an Überwachung und Kontrollen fehlt. Bauunternehmen könnten mit solchen "Scheinmaßnahmen" leicht Greenwashing betreiben, kritisieren die Forschenden. Unternehmen haben ein grundsätzliches Interesse, den Misserfolg einer Renaturierung zu verbergen. Zudem werden durch das Gesetz nicht die vollen ökologischen Kosten der Bebauung berücksichtigt, wie etwa der Abbau und die Verarbeitung von Materialien.

Internationaler Biodiversitätsmarkt

Viele Probleme und Fragen zu Biodiversitätsmärkten ähneln denen, die es auch beim Emissionshandel gibt: Wie transparent sind solche Maßnahmen? Und wie stellt man sicher, dass Verbesserungen der Biodiversität nicht ohnehin passiert wären, etwa durch günstige klimatische Bedingungen? Es brauche neben einer Fläche, die Investitionen für Renaturierungen erhält, auch eine Vergleichsfläche, auf der nichts unternommen wird, raten einige Ökologen.

Noch komplizierter wird die Sache, wenn Biodiversitätszertifikate, gleich wie CO2-Zertifikate, auch weltweit gehandelt werden. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kündigte vor zwei Jahren an, Untersuchungen für die Etablierung eines solchen internationalen Biodiversitätsmarkts in Auftrag zu geben. Anders als das neue Gesetz in England, das verpflichtend und national begrenzt ist, sollen es solche Biodiversitätsgutschriften Firmen ermöglichen, in den Erhalt der Biodiversität überall auf der Welt zu investieren, um dadurch "naturneutral" zu werden. Momentan steckt der Markt dafür aber noch in den Kinderschuhen.

Klare Kriterien

Aber lässt sich Biodiversität so einfach rund um die Welt handeln und vergleichen? "Das ist sicher ein sehr heikles Thema", sagt Essl. Ob solche Maßnahmen auch über einen längeren Zeitraum umgesetzt werden und welchen Effekt sie auf die Biodiversität haben, sei für einzelne Länder und Firmen schwer kontrollierbar. Dafür brauche es sehr klare Kriterien. Generell sei es von Fall zu Fall zu beurteilen, ob es mehr Sinn ergibt, die Biodiversität dort zu verbessern, wo ein Schaden passiert, oder an einem anderen Ort. "Ich würde das Thema aber prioritär national sehen."

Nicht zuletzt stellen einige die Frage, ob es überhaupt einen Markt für Biodiversität geben sollte. Lassen sich komplexe ökologische Zusammenhänge und Lebensformen auf eine einzige Statistik reduzieren? Was macht das mit der intrinsischen Motivation von Menschen und Unternehmen, die Natur zu schützen?

"Das Problem ist, dass die Natur ein Gemeingut ist, das nichts oder nur sehr wenig kostet", sagt Essl. Diesem Gemeingut einen Preis zu geben, könne helfen, es besser zu schützen – ähnlich, wie es durch einen Preis auf CO2 auch beim Klima passiert. "Für Unternehmen bedeutet das noch einmal klarer: Biodiversität zu zerstören hat einen hohen Preis." (Jakob Pallinger, 15.2.2024)