In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Vorstöße seitens verschiedener Ermittlungsbehörden und Innenminister in Europa, die auf die Aufweichung von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung abzielten. Die Anbieter von Messengern wie Whatsapp, Signal oder Telegram sollten es – Stichwort "Chatkontrolle" – Behörden ermöglichen, im Verdachtsfall Nachrichten im Klartext lesen zu können. An diesem Wunsch gibt es aber starke Kritik. Zum einen sei eine solche Hintertür missbrauchsanfällig und gefährde die Privatsphäre aller Nutzer. Und zum anderen würde sie den Sicherheitsgedanken hinter der Verschlüsselung ad absurdum führen, weil grundlegend auch Cyberkriminelle die künstlich geschaffene Schwachstelle finden und ausnutzen könnten.

Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in einem Fall aus Russland entpuppt sich nun als Wasser auf die Mühlen der Kritikerinnen und Kritiker. Das Gericht sieht die Aushebelung von Verschlüsselung als Menschenrechtsrisiko.

Russische Nutzer fochten Telegram-Auflagen an

Im Jahr 2017 hatte Russlands nationale Sicherheitsbehörde FSS dem Messengerdienst Telegram auferlegt, eine Hintertür dieser Art zu schaffen, um Aktivitäten in Bezug auf Terrorismus aufklären zu können. Denn die Behörden sollten bei Bedarf Zugriff auf den Inhalt der verschlüsselten Nachrichten der Nutzer bekommen. Schließlich forderte man die Offenlegung der Nachrichten von sechs Usern, die man unter Terrorverdacht gestellt hatte. Allerdings weigerte sich der Anbieter, dieser Vorgabe nachzukommen, und argumentierte auch, dass es technisch gar nicht möglich sei, Schlüssel weiterzugeben, die nur die Kommunikation spezifischer Nutzer lesbar machen können. Der Konflikt mündete 2018 in eine landesweite Sperre von Telegram. Diese wurde zwei Jahre später mangels Erfolgs der Blockade auf technischer Ebene und unter Verweis auf eine "Einigung" zur Kooperation bei Ermittlungen wieder aufgehoben.

Weil man den behördlichen Auflagen nicht Folge leistete, war Telegram in Russland über zwei Jahre gesperrt– auf technischer Ebene war die Blockade aber wenig erfolgreich.
APA/AFP/KIRILL KUDRYAVTSEV

Eine Reihe von Nutzerinnen und Nutzern von Telegram war in der Zwischenzeit gegen die Vorgaben des FSS vorgegangen, vor nationalen Gerichten aber gescheitert. Anton Podtschasow aus dem südrussischen Barnaul hatte schließlich 2019 den EGMR angerufen. Er ortete in den staatlichen Auflagen eine Verletzung seines Rechts auf ein privates Leben und private Kommunikation.

Russland sah "notwendiges" Eindringen in Privatsphäre

Der EGMR folgte in seinem Urteil der Argumentation von Telegram und hält fest, dass "jede Veröffentlichung von Schlüsseln die Privatheit der Korrespondenzen aller Telegram-Nutzer betreffen" würde. Die Vertreter der Russischen Föderation hatten das Eindringen in die Privatsphäre durch Entschlüsselung als "notwendig" bezeichnet, um in einer demokratischen Gesellschaft Terrorismus bekämpfen zu können. Weiters erklärte man, dass durch Verschwiegenheitspflichten innerhalb des Geheimdienstes FSB auch gewährleistet sei, dass die Privatsphäre unverdächtiger Nutzer nicht gefährdet werde. Zusätzlich verwies man auch auf einen Terrorangriff aus dem Jahr 2017, der laut russischen Behörden im Ausland über verschlüsselte Chats koordiniert worden war.

Viele Experten in Politologie und Menschenrechten stufen Russland allerdings schon seit geraumer Zeit nicht mehr als ansatzweise demokratisches Land ein. Im Freedom House Index, in dem Länder nach Kriterien wie Meinungs- und Pressefreiheit sowie Unabhängigkeit der Justiz bewertet werden, rangiert Russland mit 16 von 100 Punkten und der Bewertung "nicht frei" im unteren Viertel der Rangliste.

Eine Lupe, gerichtet auf ein Smartphone - Symbolbild Chatüberwachung - generiert mit der Bilder-KI Midjourney
Der EGMR spricht sich klar gegen Hintertüren in Ende-zu-Ende-Verschlüsselung aus. Dieses Symbolbild wurde mit der Bilder-KI Midjourney generiert.
DER STANDARD/Pichler/Midjourney

Präzedenzwirkung wahrscheinlich

Die Position von Telegram, dass die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung des Dienstes nicht ausgehebelt werden könne, ohne dass dies alle Nutzer betrifft, wurde durch gerichtliche Stellungnahmen verschiedener Datenschutzexperten bestärkt. Dazu wurde, etwa seitens des in Slowenien ansässigen European Information Society Institute darauf hingewiesen, dass alleine das Vorhandensein einer solchen Möglichkeit der Massenüberwachung bereits eine einschränkende Wirkung auf die Meinungsfreiheit entfalten könne. Und wenngleich ein solches Werkzeug für Staaten vielleicht billiger sei, gebe es andere Möglichkeiten, um an die gewünschten Informationen zu kommen, zitiert Ars Technica.

Diese Eingaben konnten das Gericht offenbar überzeugen. "Geheimhaltung von Kommunikation ist ein essenzielles Element des Rechts auf Privatleben und private Korrespondenz", heißt es weiter im Urteil. Daher sei eine gesetzliche Vorgabe zur Entschlüsselung von Nachrichten nicht nur eine "unverhältnismäßige" Maßnahme, sondern könne auch "in einer demokratischen Gesellschaft nicht als notwendig angesehen werden."

Diese Einstufung dürfte weitere Folgen haben. Sollte etwa auf EU-Ebene tatsächlich eine Backdoor-Lösung zur Überwachung verschlüsselter Chats verankert und vor dem EuGH angefochten werden, so gilt es als sehr wahrscheinlich, dass dieser für seine Entscheidung das Urteil des EGMR heranzieht. (gpi, 15.2.2024)