Ein Gespenst geht um in Europa, und es heißt nukleare Bedrohung. Das Getöse, das Ukrainekrieg und US-Wahlkampf mit sich bringen, hallt dieser Tage nämlich wie ein Donnergrollen über den Kontinent und löst in vielen Staatskanzleien Panik aus, Wladimir Putin schon bald schutzlos gegenüberzustehen. Geschürt wird diese nicht nur von Russlands Präsident selbst, der seit Kriegsbeginn in der Ukraine vor zwei Jahren regelmäßig mit Atomwaffen droht. Sondern auch von einem erratischen 77-Jährigen aus Florida. Der bekleidet zwar noch nicht einmal ein offizielles Amt, droht aber schon jetzt offen damit, europäische Nato-Mitglieder Putin ans Messer zu liefern, wenn sie für ihren Schutz durch Amerikas Atomwaffen nicht mehr zahlen.

Nato-Chef Jens Stoltenberg hat Anlass zur Sorge. Wladimir Putin könnte Europa angreifen, Donald Trump droht für diesen Fall mit Untätigkeit.
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Donald Trump treibt nicht nur die US-Republikaner vor sich her, wie es ihm beliebt, sondern erschüttert schon jetzt die so standfest geglaubte Sicherheitsarchitektur zwischen Lissabon und Riga. Er werde als Präsident Nato-Mitglieder, die seiner Ansicht nach zu wenig beitragen, nicht vor einem Angriff schützen, erklärte Trump vergangene Woche vor aufgepeitschten Fans. Im Gegenteil: "Ich würde sie (also Russland, Anm.) ermutigen, zu tun, was immer zum Teufel sie wollen." Angeblich will er genau das einem ungenannten europäischen Regierungschef gesagt haben – wem genau, und ob Trump die Episode nicht einfach erfunden hat, ist unklar.

Was aber noch vor kurzem wie das Drehbuch zu einer Kriegsklamotte geklungen hat, könnte nach Ansicht von Fachleuten schon 2025 Realität sein. "Wenn Trump gewählt wird und bei seiner Position bleibt, haben wir in Europa ein Problem", sagt der Münchner Politikwissenschafter Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr dem STANDARD.

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Deutsche Angst

Schlimmer noch: Eine echte Alternative zum nuklearen Schutzschirm made in USA ist derzeit nicht in Sicht. Vor allem in Deutschland, das anders als Frankreich und Großbritannien über keine eigenen A-Waffen verfügt, sucht die Politik fieberhaft nach einem Plan B. Christian Lindner, FDP-Finanzminister, erinnerte in einem Beitrag in der "FAZ" am Mittwoch an Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron, der Berlin angeboten hat, über eine gemeinsame Abschreckung durch seine "force de frappe" zu sprechen. Katarina Barley, SPD-EU-Spitzenkandidatin, hofft auf eine europäische Armee, die auch Atomwaffen besitzen könnte. Joschka Fischer, einst grüner Außenminister, sprach sich schon vor Trumps Brandrede für ebensolche aus. Auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC), die an diesem Wochenende in der bayerischen Hauptstadt tagt, dürften die Themen Trump und Nato zur Sprache kommen.

Kanzler Olaf Scholz (SPD) wischt Vorschläge wie jenen seines Koalitionspartners bisher jedoch vom Tisch. Noch. Die Doktrin der nuklearen Teilhabe innerhalb der Nato, gemäß der deutsche Jets US-Atomsprengsätze abwerfen würden, sei der beste Schutz vor Putin, argumentiert er. US-Atomwaffen lagern auch in den EU-Staaten Belgien, Italien und Niederlande sowie in der Türkei.

Ob das so bleibt, weiß niemand. "Die Europäer haben aus der ersten Amtszeit Trumps keine Konsequenzen gezogen", moniert der emeritierte Historiker Herfried Münkler von der Berliner Humboldt-Universität im Gespräch mit dem STANDARD. Seit damals sei klar, dass der Republikaner die Nato mehr lästig als wichtig findet. "Es drängt sich auf, dass sich die Europäer in die Verfügung von nuklearer Abschreckungsfähigkeit bringen, die von den USA unabhängig ist." Einfacher formuliert: EU-Atomwaffen müssten her. Und zwar besser heute als morgen.

Keine guten Optionen

Bloß wie? "Es gibt keine gute Option, jede einzelne ist mit großen Problemen behaftet", sagt Politologe Masala, dessen neues Buch "Warum die Welt keinen Frieden findet" bei Brandstätter erschienen ist. Nicht einmal die auf den ersten Blick einfachste Lösung, nämlich eine Kooperation mit der EU-Atommacht Frankreich, könnte den Wegfall der USA ausgleichen. Erstens deshalb, weil die Grande Nation zwar seit den 1960er-Jahren über Atomsprengköpfe verfügt, aktuell etwa 290, allerdings über keine taktischen Atomwaffen, die im Ernstfall eher benötigt würden. Zum Vergleich: Russland besaß 2023 laut dem Institut Sipri 5898 Atomsprengköpfe. Die Zahl allein sei aber gar nicht das Problem, so Masala: "Wenn ich damit glaubhaft androhen kann, Moskau und St. Petersburg zu zerstören, würde kein russischer Präsident einen Angriff auf Europa riskieren."

Zweitens kann sich Masala nicht vorstellen, dass Paris seine Atomcodes aus der Hand gibt, um etwa Polen oder Estland zu schützen. "Und was passiert, wenn 2027 Marine Le Pen Präsidentin wird? Sie hat angekündigt, an der bisherigen Nukleardoktrin festzuhalten."

Träge Mechanismen

Und wenn der berühmte rote Koffer, mit dem ein Atomschlag ausgelöst wird, gleich in den Händen der EU läge – und womöglich auch Österreich mitschützt? "Es ist absurd, sich vorzustellen, dass die EU-Staaten konsensual über den Einsatz von Atomwaffen entscheiden", sagt Masala. Der Historiker Münkler schlägt ein Rotationsprinzip vor, bei dem das Oberkommando innerhalb einer Koalition der Willigen hin und her geht. Etwa wenn Deutschland, Polen und Frankreich gemeinsam mit Spanien und Italien einen Schutzschirm über der EU aufspannen. Das, so Münkler, setzte freilich ein gewaltiges Vertrauen voraus. Masala ist skeptisch: "Soll der Spanier über einen Nuklearschlag entscheiden, während der Gegenschlag Frankreich treffen würde? Letzten Endes wird sich kein Land auf ein solches Konzept einlassen."

Ein Problem sieht er auch in einem Europa der zwei Geschwindigkeiten, etwa wenn Polen unter dem Schutzschirm der USA bleibt, Deutschland aber nicht: eine Spaltung, wie sie sich Putin besser nicht wünschen könnte.

Wie hoch Trumps Schutzgeld wäre, das er von seinen Verbündeten verlangt, ist unbekannt. Just am Mittwoch meldete die Nato, dass 18 der 31 Mitglieder heuer die geforderten zwei Prozent ihres BIP fürs Militär ausgeben, Deutschland erstmals seit Jahrzehnten.

Dass Europa Putin und – indirekt – auch Trump die Stirn bieten muss, stehe aber fest, so Historiker Münkler: "Wer Angst zeigt, provoziert die Angstmacher umso mehr." Noch sei die reale Bedrohung für Europa freilich nicht allzu groß, beruhigt Politologe Masala. Zwar dürfe man Putins Drohungen nicht "zerreden". Die Wahrscheinlichkeit, dass er Atomwaffen einsetzt, sei aber extrem gering. Dennoch: Das Gespenst, das in Europa umgeht, wird so schnell nicht wieder verschwinden. (Florian Niederndorfer aus München, 16.2.2024)