Kant-Jahr Aufklärung Freiheit Moralisches Gesetz
Immanuel Kant (1724-1804) erarbeitete in seinen drei "Kritiken" die Grundlagen menschlicher Verstandestätigkeit: Das Individuum beugt sich aus freien Stücken der besseren Einsicht.
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Sein Konzept der Moralphilosophie erhebt Immanuel Kant (1724–1804) zum Zentralgestirn der Aufklärung. Carolin Amlinger hat gemeinsam mit Oliver Nachtwey in dem Band Gekränkte Freiheit bereits 2022 den Frustrierten dieser Erde den Erregungspuls gefühlt. Zum 300. Geburtstag des Königsbergers sagt die deutsche Philosophin und Sozialwissenschafterin über Selbstverpflichtung bei Kant: "Freiheit wird gemeinsam verwirklicht, oder sie ist keine Freiheit."

STANDARD: Freiheit ist in Kants Vernunftphilosophie ein komplizierter Gegenstand. Wir besitzen sie erst dann, wenn wir bereit sind, moralisch zu handeln.

Amlinger: Aufklärung ist für Kant der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. In dieser Formulierung steckt die ganze Problematik mit drin. Unmündigkeit resultiert daraus, dass wir über unseren eigenen Verstand nicht frei verfügen können. Kant beschäftigt sich mit den vernünftigen Voraussetzungen unseres freien Denkens und Handelns. Die wahrhaft aufklärerische Idee besteht bei ihm darin, dass die Vernunft sich selbst ein Gesetz gibt.

STANDARD: Ein anspruchsvolles Konzept.

Amlinger: Weil es nicht an unseren Neigungen orientiert ist. Es soll universalisierbar sein, das heißt, für alle gleich gelten. Kant überlässt das Gesetz nicht der Willkür des Einzelnen. Er versucht, Freiheit gleichzeitig gesellschaftlich zu denken, indem er die vernünftigen Bedingungen menschlicher Freiheit reflektiert.

Amlinger Soziologie Kant-Jahr Gekränkte Freiheit
Philosophin und Literatursoziologin Carolin Amlinger, 2023 nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch: "Kant gibt den Menschen die Freiheit als Ansporn zum Handeln auf."
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STANDARD: Worin bestünde der aufklärerische Gehalt von Freiheit?

Amlinger: Wir müssen uns alle einem universellen moralischen Gesetz unterwerfen, weil nur so unsere individuelle Freiheit verwirklicht werden kann. Darauf müssen wir auch in der Gegenwart stärker hinweisen.

STANDARD: Das Sollen soll unser Müssen sein.

Amlinger: Genau.

STANDARD: Unser Urteil über Gut und Böse müssen wir aus der Vernunft schöpfen. Wie lässt sich in einer Konsumgesellschaft wie der unseren vernünftiges Handeln als Genuss verkaufen?

Amlinger: Kant hat versucht, diesen Punkt in seiner Rechtsphilosophie zu erläutern. Er klärt darin die vernünftigen Voraussetzungen für das soziale Handeln der Menschen untereinander. Er führt Gründe an, warum wir manchmal unsere Freiheit einschränken müssen, um wahrhaft frei sein zu können. Interessanterweise führt er als Begründung die beschränkte Ausdehnung der Erdoberfläche an. Unsere Bewegungsfreiheit endet genau dort, wo die einer anderen Person beginnt. Kants Beispiel ist nicht im räumlichen Sinn aktuell, sondern im klimatischen. Wir sind in unserem Tun immer auch verwoben mit dem Tun der anderen, insofern es unmittelbare Auswirkungen zeitigt. Die individuelle Art zu leben muss immer abgeglichen werden mit den Interessen aller.

STANDARD: Wir müssen stets verallgemeinern?

Amlinger: Wenn wir etwa eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen haben, gewinnen wir Freiheit. Durch solches Handeln schaffen wir die Grundlagen für Freiheit. Von Vertretern einer libertären Freiheitsidee werden solche Voraussetzungen geleugnet. Hier wird der Einzelne atomar gedacht, frei von jeder Beschränkung.

STANDARD: Nun erlegt uns die Gesellschaft den Zwang zur Singularisierung auf. Andere meinen, Gesellschaft behindert uns. Wie hält man die Balance?

Amlinger: Worin besteht der emanzipatorische Aspekt der Freiheit, wo bleibt unsere Autonomie? Kants Idee besteht in der Selbstgesetzgebung. Heute würde man Selbstbestimmung dazu sagen. Noch in den Sozialbewegungen der 1970er-Jahre wollte man sich nicht mehr mit gesellschaftlicher Herrschaft und Hierarchien abfinden, mit vorgegebenen Rollen. Bei Kant werden solche Forderungen immer "zurückgedacht". Das Gesetz, das man sich selbst gibt, kann nur gelten in Hinsicht auf seine Verallgemeinerbarkeit. Freiheit war somit immer auch an ein transformatorisches, utopisches Projekt gebunden.

STANDARD: Die Formung von Gesellschaft ist uns als Pflicht aufgegeben?

Amlinger: Im Kategorischen Imperativ sagt Kant, dass die Maxime, nach der man handelt, gleich allgemeines Gesetz werden soll. Liest man das revolutionär, meint das ein gesamtgesellschaftliches Projekt. Die Gesellschaft muss danach streben, sich zu verbessern. Was den Auftrag zur Solidarisierung angeht, so beobachten wir gerade einen Wandel ihrer zentralen Normen. Der Politologe Ingolfur Blühdorn hat die These aufgestellt, dass die Idee des aufgeklärten Individuums nach Kant aktuell in ihr Gegenteil umschlägt. Die Idee der freien, selbstgeleiteten Vernunft wird als Besonderung gedacht. Das Individuum ist dazu angehalten, verschiedene Identitäten anzunehmen, losgelöst vom Horizont gesellschaftlicher Veränderung. Es soll sich im Hier und Jetzt verwirklichen. Oliver Nachtwey und ich sprechen in einem solchen Fall von "verdinglichter Freiheit". (Ronald Pohl, 16.2.2024)