Nawalny kehrte im Jänner 2021, nachdem er einen Giftanschlag überlebt hatte, von Deutschland nach Moskau zurück und wurde sofort verhaftet.
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Moskau – Mit dem Tod des 47-jährigen Alexej Nawalny, der eine jahrelange Haft in einer Strafkolonie in einem Gefängnis im hohen Norden verbüßt hatte, hat Russland seinen wichtigsten Oppositionspolitiker verloren. Das Verhalten von Russlands Mächtigen hatte diesen Status wiederholt bestätigt: Präsident Wladimir Putin weigert sich, seinen Namen auszusprechen, Staatsmedien bezeichnen ihn abfällig als "Blogger", und die Politjustiz tat seit der Rückkehr Nawalnys in seine Heimat 2021 alles, um ihn für den Rest der Ära Putin hinter Gitter zu bringen. Nawalnys Team konnte die Berichte über seinen Tot vorerst nicht bestätigen.

Seit knapp 25 Jahren ist Putin an der Macht, und ist es kein Zufall, dass sich sein größter innenpolitischer Widersacher fast ebenso lange hauptberuflich mit Politik beschäftigt. Im Jahr 2000 hatte sich der junge Moskauer Jurist Alexej Nawalny, Jahrgang 1976, bewusst der linksliberalen Jabloko-Partei angeschlossen, die damals als einflussreichste wirkliche Oppositionspartei des Landes galt. Öffentlich in Erscheinung trat der Nachwuchspolitiker, der seine junge Familie damals bisweilen mit Nebenjobs durchbringen musste, in diesen Anfangsjahren kaum. Laut eigenen Erzählungen war er in der Medienarbeit tätig und agierte als Wahlkampfhelfer – freilich mit eher bescheidenem Erfolg: Jabloko flog 2003 als Fraktion aus der Staatsduma.

Video: Kremlkritiker Nawalny offenbar tot
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Parallel zu einer formalen Funktion in der Moskauer Stadtpartei von Jabloko"widmete er sich ab 2005 zunehmend politischen Experimenten. Mit Mascha Gajdar, der Tochter von Wirtschaftsreformer Jegor Gajdar, und anderen Gleichgesinnten gründete er 2006 etwa einen zunehmend beachteten Debattierklub für Nachwuchspolitiker, wo er zunächst selbst mitdiskutierte und später auch moderierte. Diese Aktivitäten machten ihn unter Politikinteressierten erstmals bekannt.

Nawalny als "Nationaldemokrat"

Gleichzeitig liebäugelte er mit dem russischen Nationalismus, bezeichnete sich als "Nationaldemokraten" und gründete 2007 gemeinsam mit dem Journalisten Sergej Guljajew und dem nationalistischen Schriftsteller Sachar Prilepin eine Bewegung namens Narod ("Volk"). Während die Gruppe in Moskau keine Rolle spielte, wurde sie in St. Petersburg für die Spaltung der seinerzeit äußerst aktiven Protestbewegung verantwortlich gemacht. Von liberaler Seite brachte ihm dies damals Vorwürfe ein.

Eine Affinität zum Nationalismus sorgte schließlich Ende 2007 auch für seinen Parteiausschluss bei Jabloko. Der umtriebige und charismatische Nachwuchspolitiker musste sich selbst neu erfinden: Nationalismus trat in den Hintergrund, Nawalny schuf mit Enthüllungen über russische Staatskonzerne die Basis für sein künftiges politisches Vehikel, den 2011 gegründeten Fonds zur Korruptionsbekämpfung. Für seine Kommunikation setzte er dabei insbesondere auf das Internet, dessen Potenzial er vor vielen anderen in Russland verstanden hatte.

Unterbrochen wurden diese Aktivitäten in Moskau durch einen Studienaufenthalt an der US-Eliteuniversität Yale sowie ein kurzes Gastspiel als Berater des Gouverneurs der Region Kirow, seiner einzigen Funktion im russischen Staatswesen. Diese Episode in Kirow sollte später Ausgangspunkt für eine fragwürdige Strafverfolgung sein, die als Begründung für seine Nichtzulassung bei der Präsidentschaftswahl 2018 verwendet wurde.

Unumstrittene Führungsfigur

Während der Protestsaison von 2011/12, die gegen Wahlfälschungen bei der Dumawahl im Dezember 2011 und gegen die Wiederwahl von Wladimir Putin als Präsident im März 2012 gerichtet war, avancierte Nawalny bei Großdemonstrationen zu einer der unumstrittenen Führungsfiguren der russischen Opposition. Bereits Anfang 2011 hatte er sich auf Putins Einiges Russland eingeschossen und die Partei in einer gekonnten Kampagne als "Partei der Betrüger und Diebe" gebrandet. Gleichzeitig vermittelte er mit seiner Law-and-Order-Rhetorik damals und auch später den Eindruck, dass er in einigen Bereichen den ideologischen Deklarationen Wladimir Putins nicht allzu fern steht. Auch Putin sprach wiederholt von der "Diktatur des Gesetzes" – die Praxis sieht freilich anders aus.

Nawalny avancierte zu einer der unumstrittenen Führungsfiguren der russischen Opposition.
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Nach der Niederlage der Protestbewegung begann Nawalny einen Plan zu realisieren, den er bereits bei einer Demonstrationen am Tag nach Putins Wahlsieg im März 2012 skizziert hatte: "Vom morgigen Tag an werden wir eine propagandistische Maschine aufbauen, die nicht schlechter als der erste Sender des Staatsfernsehens arbeiten wird."

Mit einem wachsenden Team des Fonds zur Bekämpfung der Korruption enthüllte er am laufenden Band Verfehlungen von Russlands herrschender Elite. Seit 2015 geschah dies in Form von unterhaltsamen Youtube-Filmen, die wiederholt zum landesweiten Gesprächsstoff avancierten und mit denen er sich zahllose äußerst mächtige Feinde schuf. Der Staat schlug mit augenscheinlich politisch motivierter Strafverfolgung zurück, die ihn damals noch nicht ins Gefängnis brachte.

Zweiter Platz bei Bürgermeisterwahl

2013 ermöglichte der Kreml dem Oppositionellen jedoch auch, bei der Moskauer Bürgermeisterwahl zu kandidieren. Unter anderem wurde dafür ein Gerichtsurteil unter eigenartigen Umständen aufgehoben. Nawalny unterlag zwar dem Amtsinhaber Sergej Sobjanin, konnte aber mit mehr als 27 Prozent und Platz zwei einen Achtungserfolg landen. Es war seine letzte Chance auf ein politisches Amt: Willfährige Gerichte und Gesetzesnovellen vereitelten seit damals weitere Kandidaturen, zuletzt bei der Präsidentschaftswahl 2018.

Zahlreiche Kandidaturen Nawalnys, zuletzt jene bei der Präsidentschaftswahl 2018, wurden von Gerichten und Gesetzesnovellen verhindert.
Sergei Bobylev; via www.imago-im

Aber auch ohne Amt blieb Nawalny einer der hartnäckigsten und durchaus erfolgreichen Gegner des Kreml. Obwohl seine Mitstreiter 2019 nicht als Kandidaten bei der Wahl zum Moskauer Stadtparlament zugelassen wurden, trug von Nawalny propagiertes "kluges Wählen" zu einem deutlichen Mandatsverlust von Einiges Russland bei.

Die Auseinandersetzung mit dem Staat wurde in der Folge härter. Im August 2020 verlor der Oppositionspolitiker bei einem Anschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok in Sibirien fast das Leben. Er konnte aber nach Deutschland evakuiert werden, wo er erfolgreich in der Berliner Klinik Charité behandelt wurde.

Lange Haftstrafe

Obwohl die Rechercheplattform "Bellingcat" wenige Monate später in einer bestechenden Recherche nachweisen konnte, dass ausgerechnet der russische Inlandsgeheimdienst FSB hinter der Tat steckte, ließ sich der Oppositionspolitiker nicht von einer Rückkehr nach Russland abbringen. Als er am 17. Jänner 2021 nach Moskau zurückflog, wurde er sofort verhaftet. In einer Reihe von politisch motivierten Strafverfahren wurde er zu immer höheren Haftstrafen verurteilt. Es zeichnete sich dabei zunehmend ab, dass der auch rhetorisch äußerst begabte Politiker, der Putins Krieg gegen die Ukraine in aller Deutlichkeit verurteilte, erst nach einem Machtwechsel in Kreml entlassen werden würde.

Am 17. Jänner 2021 flog Nawalny unter großem medialen Interesse zurück nach Moskau.
AP

Hatte man Nawalnyj zunächst Wirtschaftsverbrechen vorgefahren, waren es zuletzt die Gründung einer extremistischen Organisation sowie weitere extremistische Delikte im Zusammenhang mit dem 2021 verbotenen Fonds zur Bekämpfung der Korruption, die ihm im August 2023 19 Jahre Haft unter erschwerten Bedingungen einbrachten. Nachdem er bereits in einem Gefängnis in der Region Wladimir massiv drangsaliert worden war, war er zuletzt in den hohen Norden überstellt worden, wo er ebenso wiederholt in den sogenannten Strafisolator gesteckt wurde.

Zuletzt war Nawalny in eine Haftanstalt in den hohen Norden Russlands überstellt worden.
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Russische Medien spekulierten am Freitag, dass er an einer Thrombose gestorben sein könnte. Viele seiner Anhängerinnen und Anhänger schrieben, dass er ermordet worden sei. Liberale Russen hatten in Nawalny jedenfalls einen möglichen russischen Nelson Mandela gesehen, der nach seiner Freilassung maßgeblich am Wiederaufbau eines demokratischen Russland beteiligt sein könnte. Mit dem frühen Tod des Oppositionspolitikers haben sich diese Hoffnungen zerschlagen. (APA, 16.2.2024)