Collage hass im Netz
Im Reich der Trolle kann es schon mal lauter werden.
Illustration: STANDARD / Lukas Friesenbichler; Getty Images, Adobe Stock

Pia Scholz ist 26, hübsch, politisch, selbstbewusst und dick im Geschäft. Bekannt wurde sie unter dem Namen Shurjoka, als Streamerin, die sich dabei filmt, wie sie zockt, mit Fans plaudert, manchmal auch, wie sie verreist oder wenn sie einfach etwas zu sagen hat. Selbstständig ist Scholz, seit sie ein Teenager ist. Ihr Geld verdient sie mit der Werbung in ihren Videos und Spenden ihrer Zuschauer. Die Grazerin ist ein Selfmade-Internetstar – und eines der bekanntesten deutschsprachigen Langzeitopfer von Hass im Netz. Seit Monaten wird Scholz, die selbst eine große Klappe hat, bedroht, beleidigt, verhöhnt. Jeden gottverdammten Tag.

Wer in sozialen Medien regelmäßig Position bezieht, muss mit untergriffigen Kommentaren rechnen. Das ist längst das neue Normal. Seit Scholz vergangenes Jahr zum Boykott eines Videospiels aufgerufen und Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling Transfeindlichkeit unterstellt hat, steht die Streamerin aber unter Dauerbeschuss. Sie sei links, woke, feministisch, direkt. Scholz polarisiert. Den Hass, den sie erlebt, macht sie laufend zum Thema – und heizt ihn damit noch mehr an. Menschen schreiben ihr:

"Deine Tränen sind Gleitgel."
"Ich will Mobbing nicht gutheißen, aber Menschen wie sie haben es verdient."
"Vielleicht mal den Mund füllen lassen mit Eiersalat."

Massenphänomen Gehässigkeit

Reichweitenstarke Streamer übertragen live Trinkspiele, bei denen man bei bestimmten Aussagen von Scholz einen Schluck nehmen muss. Dabei wird gegrölt und gejohlt – und tausende Jugendliche sehen zu.

Scholz ist ein Extremfall, aber kein Einzelfall. Ganz im Gegenteil: Gehässigkeit und Hass im Netz sind zum Massenphänomen geworden. Wer durch die Kommentarspalten auf X, Facebook oder anderen "sozialen" Netzwerken scrollt, kann das Gefühl bekommen, die Menschheit sei außer Kontrolle geraten.

Aber ist das so? Sind soziale Medien der Kriegsschauplatz einer gespaltenen Gesellschaft? Oder beobachten wir im Internet bloß ein verzerrtes Abbild unserer Welt? Sind Social Media ein Vergrößerungsglas? Und wenn ja, was wird da vergrößert?

Einfach abreagieren

Wer als Journalist André Kieserling anruft und ihn dazu befragt, muss damit rechnen, dass der Soziologe höflich Unzufriedenheit äußert – mit der Berichterstattung. "Medien neigen dazu, das Thema ‚Hass im Netz‘ wie den Vorboten auf einen kommenden Bürgerkrieg zu behandeln", sagt Kieserling. Der Online-Hass werde gedanklich eins zu eins in Hass außerhalb des Netzes übersetzt. "Aus Sicht eines Soziologen ist das problematisch: Menschen nehmen in verschiedenen Kontexten verschiedene Rollen ein." Und "Hassposter" sei auch eine Rolle.

Es ist nicht so, dass Kieserling, Professor an der Universität Bielefeld, Online-Hass nicht für ein Problem hält. Er sei geradezu "angewidert davon", sagt er. Aber soziologisch müsse man das Internet, speziell die sozialen Medien, als einen sehr eigenen Kommunikationsraum sehen. "Das, was wir ‚Hass im Netz‘ nennen, ist eigentlich nicht auf Folgekommunikation ausgerichtet." Weniger wissenschaftlich ausgedrückt: Die Leute wollen keinen Kontakt aufnehmen, sondern sich online abreagieren.

Das zeigt sich bei Treffen im echten Leben: Es gibt Geschichten von Menschen, die ihre "Hassposter" besucht haben und freundlich mit Kuchen empfangen wurden. Das Gegenüber war dann eben in einer anderen Rolle – einer ihrer Offline-Versionen.

Es herrschen eigene Gesetze

Hass im Netz ist dennoch ein Massenphänomen, aber ein recht unbestimmtes. Er kann viele Formen annehmen. Hass im Netz kann die Message an die Ex-Freundin mit sexuellen Beleidigungen sein. Oder Cybermobbing unter Jugendlichen. Es kann sich um die direkte, strafrechtlich relevante Drohung handeln, ob gegen eine Person oder ihre Familie. Und in den sozialen Medien ist es oft das, was die Wissenschaft "Online-Hassrede" nennt: Viele Accounts konzentrieren sich auf ein Ziel – ein Online-Mob ist geboren.

Die sozialen Medien haben ihre eigenen Gesetze. Man kommuniziert vor einer Öffentlichkeit, redet oft über Menschen statt mit ihnen. Und wenn man sich doch an sie richtet, sieht man dabei weder ihr Gesicht noch ihre Reaktion. Die Algorithmen der Plattformen sind auf Interaktion ausgerichtet, was dazu führt, dass gerade besonders stark polarisierende Aussagen bevorzugt ausgespielt werden. Denn kontroverse Aussagen rufen Reaktionen hervor – und davon profitiert auch der Betreiber.

In sozialen Medien wird also ein Ausschnitt der Welt vergrößert, aber eben manche Teile besonders. "Das Internet ist ein Zerrspiegel unserer Gesellschaft", sagt die Autorin Ingrid Brodnig, Expertin für Digitales. Etliche Untersuchungen würden darauf hindeuten, dass gerade Personen, die Extrempositionen vertreten, online umso sichtbarer seien. "Sie nutzen digitale Kanäle stärker und posten häufiger als Leute mit einer gemäßigten Meinung." Hinzu komme, dass manche Kampagnen – insbesondere politisch motivierte – gar nicht von echten Menschen kommen, sondern durch gesteuerte Bots getrieben werden, von Computerprogrammen, die Menschen imitieren.

Rückzug aus Diskussionen

Bei aller notwendigen Differenzierung: Für die Opfer ist der Online-Hass real und hat reale Konsequenzen. Er kann ihnen das Leben regelrecht zur Hölle machen. Oft ziehen sich Betroffene erst einmal zurück. In einer diese Woche veröffentlichten Umfrage sagten 70 Prozent derer, die Hass im Netz erlebt haben, dass sie sich seltener an Online-Diskussionen beteiligen. Und auch die Streamerin Pia Scholz, die davon lebt, online zu sein, legte zuletzt immer wieder Pausen ein.

Dass sich Menschen, die einst betroffen waren, aus dem Diskurs zurückziehen, verzerrt das Bild der Wirklichkeit noch mehr – weil der Hass eben nicht alle gleich trifft . Die erwähnte Studie bestätigte auch wieder altbekannte Risikofaktoren. Am häufigsten trifft es junge Frauen wie Pia Scholz, wo die Beschimpfungen häufig sexualisiert sind. Auch ein sichtbarer Migrationshintergrund oder Homosexualität erhöhen das Risiko, Opfer von Hass im Netz zu werden.

Rechtfertigung für Hass

Hassposter und stänkernde Internet-Trolle wollen sich abreagieren, das steht fest. Abgesehen davon gibt es bezüglich ihrer Motivation aber immer noch recht wenig gesichertes Wissen. "Wir vermuten, dass dieses Verhalten für die Täter auch zur Stärkung oder Bildung der eigenen Identität dient", sagt Stephanie Bührer. Die Psychologin forscht an der Universität Wien im Projekt "DigiHate", das sich speziell dem Thema Hass im Netz widmet. Der Hass dient also der Identität- und Gruppenbildung.

Dabei kommt ein bekanntes Phänomen zum Tragen: Menschen schreiben anderen Menschen aus der eigenen Gruppe oft positive Eigenschaften, den Menschen außerhalb aber negative zu. Das nutzt auch Posterinnen und Postern, um ihren Hass für sich zu rechtfertigen. In den Kommentaren zeige sich häufig, dass die Leute darauf bestehen, dass die betreffende Person die Reaktion durch ihr Handeln selbst heraufbeschworen habe, sagt Bühler – den Hass also vermeintlich "verdient".

Das macht die Sache noch einmal komplizierter: Die Wahrnehmung, wer Opfer und wer Täter ist, ändert sich mit dem Standpunkt. Im Inneren des Mobs, der über eine Einzelperson herfällt, kann es sich ganz anders anfühlen als außerhalb der Gruppe. Die Menschen innerhalb glauben vielleicht sogar, sie würden sich nur wehren. "Es gibt Hinweise, dass Hasspostings oft von Menschen kommen, die im realen Leben keine Handlungsmöglichkeit sehen", sagt Bührer. "Und das ist dann ihr Ventil."

Elite gegen das Volk

Im Internet werden also durchaus gesellschaftliche Konflikte ausgetragen, nur eben anders als in der echten Welt. Auf X wirkt das dann oft wirklich wie das alte, mittlerweile vielkritisierte Bild der "gespaltenen Gesellschaft": hier die linke, urbane Elite, dort das einfache Volk. Es schient, als ziehe sich ein Spalt quer durch alle Themen. Doch das ist als Erklärung zu einfach gedacht.

"Im Netz sehen wir eine Generalisierung der Konflikte", sagt André Kieserling dazu. "Ich sehe, dass jemand gendert, und gehe automatisch davon aus, dass die Person auch für ein Tempolimit ist." Oder eben umgekehrt. So wird die Einteilung in zwei Lager, die viele Menschen sehen wollen, auch von diesen Erwartungen erzeugt.

Die neueste Welle der soziologischen Forschung widerspricht der simplen Zweiteilung eher: Bei vielen Themen gebe es in der Gesellschaft einen breiten Konsens. Da geht es nicht nur um links oder rechts, wohlhabend oder finanzschwach, grün oder blau.

Emotionale Debatten

Gleichzeitig stimmt: Bei manchen Themen werden Debatten besonders schnell emotional. Manche Soziologen sprechen von "Triggerpunkten", wo Hass im Netz besonders heftige Formen annimmt: bei den Themen Asyl oder Gendern, Auto versus Lastenfahrrad oder Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Transpersonen etwa.

Der Politik ist das Thema Hass im Netz nicht fremd, aber die Versuche, den Hass im Netz zu zügeln, wirken reichlich hilflos. In Frankreich will Premierminister Gabriel Attal Mitte Februar soziale Netzwerke für 13- bis 15-Jährige verbieten. "Ich will an einem digitalen Riegel arbeiten", verkündete er. Um gleichzeitig einzuräumen, dass das eine "schwierige Baustelle" sei. Tatsächlich gibt es längst Altersbegrenzungen. Es lässt sich dennoch kaum verhindern, dass ein Achtjähriger Tiktok nutzt – vor allem, wenn die Eltern ihr Einverständnis geben. Auf Instagram sollen "politische Diskussionen" nun überhaupt ausgeblendet werden können. Tiktok geht einen anderen Weg: Für das Superwahljahr sollen 6000 neue Mitarbeiter eingestellt werden, die sich um die Moderation von Inhalten kümmern – selbst mit KI-Unterstützung ein zahnloser Versuch angesichts der 1,54 Milliarden User.

Manches sei in Österreich gelungen, findet Netzexpertin Brodnig. Im Jänner 2021 trat ein Gesetzespaket zu Hass im Netz in Kraft, mit dem sich Menschen besser wehren können – auch wenn wenige davon Gebrauch machen. Rechtslücken gebe es weiterhin, sagt Brodnig – etwa bei Fällen, wenn der Hass über Direktnachrichten auf jemanden einprasselt. Wer Hass beobachtet, könne einschreiten: Betroffenen den Rücken stärken, festhalten, dass "Todeswünsche" keinen Platz haben, sagt Brodnig. Zumindest ein "bisschen Macht" gegen Hass im Netz hätten wir alle. (Alexander Amon, Katharina Mittelstaedt, Jonas Vogt, 17.2.2024)