Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny ist tot. Das teilte die Gefängnisverwaltung am Freitag mit. Nawalny habe sich auf einem Hofgang unwohl gefühlt und "sofort das Bewusstsein verloren". Die alarmierten Ärzte hätten es nicht geschafft, den Häftling wiederzubeleben. Laut dem russischen Staatssender RT starb Nawalny an einem Blutgerinnsel, das sich gelöst hatte. Aus dem Kreml hieß es, man habe "keine Information über die Todesursache" – es würden aber alle erforderlichen Untersuchungen durchgeführt. Anwalt Leonid Solowjow sagte der Zeitung Nowaja Gaseta: "Auf Entscheidung von Alexej Nawalnys Familie kommentiere ich überhaupt nichts."

Alexej Nawalny hinter Gittern
Schon seit Jahren kannte man Alexej Nawalny nur so: hinter Gittern, als ob er ein Schwerstverbrecher wäre.
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Alexej Nawalny hatte ein jahrelanges Martyrium hinter sich. Erst vor kurzem wurde der 47-Jährige in die Strafkolonie IK-3 im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen verlegt. IK-3 in Sibirien ist auch bekannt unter dem Namen "Polarwolf" – es ist die nördlichste Strafkolonie Russlands.

Vor seiner Verlegung war Nawalnys Team in großer Sorge: Es gab wochenlang kein Lebenszeichen von ihm. Schon damals gab es Spekulationen über eine ernsthafte Erkrankung. Erst diese Woche gab es Berichte, Nawalny sei bereits zum 27. Mal für eine Dauer von 15 Tagen in Einzelhaft gebracht worden.

Kampf gegen Oligarchen

Nawalnys großes Thema war die Korruption in Russland. Immer wieder legte er sich mit Oligarchen an, den Mächtigen aus Politik und Wirtschaft. Politisch war seine Karriere dagegen eher wechselhaft. Einige Jahre lang arbeitete er in der Oppositionspartei Jabloko, wegen nationalistischer Äußerungen musste er die Partei aber verlassen. 2013 kam er bei der Moskauer Bürgermeisterwahl auf respektable 27 Prozent der Stimmen.

Internationale Schlagzeilen machte Nawalny, als er im Sommer 2020 mit dem überaus starken Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde. Bei Hautkontakt wirkt bereits ein Milligramm tödlich. Nur ein ausgewählter Kreis von Menschen aus Militär und Geheimdienst hat Zugang zu diesem Gift. Doch wer wollte nun wirklich den Kreml-Kritiker ermorden? Das bleibt bis heute im Dunklen.

De facto seine letzten Minuten in Freiheit verbrachte Alexej Nawalny an Bord eines Flugzeuges in Berlin Brandenburg, unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Moskau, wo er sofort festgenommen wurde.
De facto seine letzten Minuten in Freiheit verbrachte Alexej Nawalny an Bord eines Flugzeuges in Berlin, unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Moskau, wo er sofort festgenommen wurde.
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Nawalny flog in einer Linienmaschine von Tomsk in Sibirien Richtung Moskau. Plötzlich wurde ihm unwohl, er verlor das Bewusstsein. Zwei Tage lang wurde Nawalny nach einer Notlandung in Omsk behandelt, bevor er auf Druck seiner Familie nach Deutschland, in die Berliner Charité, verlegt wurde. Dort kämpften die Ärzte tagelang um sein Leben, nach 32 Tagen konnte Nawalny das Krankenhaus verlassen.

Obwohl er fest mit seiner Festnahme rechnen musste, entschloss er sich zu einer medial groß gecoverten Rückkehr nach Russland. Tatsächlich wurde Nawalny direkt nach seiner Ankunft am Moskauer Flughafen festgenommen. Möglicherweise hatte er doch die Entschlossenheit des Kremls unterschätzt, sogar im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit gegen ihn tätig zu werden.

Erst im August des vergangenen Jahres war Nawalnys ursprünglich neunjährige Haftstrafe wegen "Extremismus" auf 19 Jahre erhöht worden. Das Gericht ordnete zudem seine Überführung in eine Strafkolonie unter "verschärften Haftbedingungen" an. Seine politische Bewegung wurde verboten, enge Mitarbeiter wurden inhaftiert oder flohen ins Ausland.

"Verschärfte Bedingungen"

Nawalny wies alle Vorwürfe als politisch motiviert zurück: Sie zielten darauf ab, seine Kritik an Präsident Wladimir Putin verstummen zu lassen. Anfang Dezember brachte die russische Justiz weitere Beschuldigungen vor: Die Behörden warfen ihm Vandalismus vor, was eine weitere Haftstrafe von drei Jahren mit sich bringen könnte.

Unter normalen Haftbedingungen leben Häftlinge im Straflager zusammen mit anderen Sträflingen in einem Schlafsaal, dürfen pro Jahr drei Pakete empfangen und monatlich für rund 70 Euro im Gefängnisladen einkaufen. Zudem seien Besuche erlaubt, weiß das Online-Medium Meduza.

Doch Nawalny lebte unter "verschärften Bedingungen". Sprich Zellentrakt statt Schlafsaal, weniger Einkauf, weniger Besuche und nur ein Paket pro Jahr. Derartige Haftbedingungen sind nur für Gewohnheitsverbrecher, Mörder und Vergewaltiger vorgesehen. Weitere Schikanen: Häftlingen kann es verboten werden, mit ihren Mitgefangenen zu sprechen; sie können gezwungen werden, sich auf dem Gefängnisgelände nur gebeugt, die Hände am Rücken mit Handschellen fixiert, zu bewegen. Hinzu kam: Immer wieder wurde Nawalny in eine Einzelzelle gesperrt. Seine Unterstützer kritisierten, die russische Justiz wolle seinen Widerstand brechen und ihn als abschreckendes Beispiel für andere Regierungskritiker vorführen. Sie sprachen von Folter. International wurde Nawalny stets als politischer Gefangener angesehen.

Menschenrechtler wiesen oft auf den angeschlagenen Gesundheitszustand Nawalnys hin. Sein Körper sei durch den Giftanschlag geschwächt. Ärzte appellierten an den Kreml-Chef Putin, er möge als Garant der Verfassung Nawalnys Recht auf ärztliche Behandlung sicherstellen.

Alexej Nawalny im Jahr 2017 bei einem der zahlreichen Prozesse gegen ihn.
Alexej Nawalny im Jahr 2017 bei einem der zahlreichen Prozesse gegen ihn.
AFP/KIRILL KUDRYAVTSEV

Nawalnys Ehefrau Julija hatte dem Strafvollzug geschrieben und gefragt, ob dort überhaupt noch Menschen arbeiteten. Sie beklagte kürzlich, dass sie schon fast ein Jahr lang nicht mehr mit ihrem Mann habe telefonieren dürfen. "Briefe sind unser letztes Mittel der Verbindung." Doch zuletzt seien weder Briefe von Nawalny noch Schriftstücke an ihn zugestellt worden, sagte seine Sprecherin Kira Jarmysch.

In einem auf Instagram veröffentlichten Beitrag zum zweiten Jahrestag seiner Inhaftierung schrieb Nawalny, dass ihm in der Einzelhaft ein psychisch kranker Mann in eine Zelle gesetzt worden sei. "Er schreit 14 Stunden am Tag und drei in der Nacht", teilte Nawalny mit. "Bekanntlich ist Schlafentzug eine der wirksamsten Foltern." Er habe viel erlebt und gelesen, aber das sei etwas Neues. "Alles, was ihr lest über den Horror und die faschistischen Verbrechen unseres Gefängnissystems, das ist alles die Wahrheit. Mit einer Richtigstellung: Die Wirklichkeit ist noch schlimmer."

EU-Ratspräsident Charles Michel machte das "russische Regime" für den Tod Nawalnys verantwortlich. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte ebenso sein Entsetzen wie auch der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg: "Ich fordere eine vollumfängliche, unabhängige Untersuchung der Umstände seines Todes." (Jo Angerer, 16.2.2024)