Für seine letzte Berlinale-Eröffnung hat sich das scheidende Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian so richtig ins Zeug geworfen. Anders als im vergangenen Jahr gab es heuer kaum peinliche Pannen. Hie und da war man sich nicht sicher, wo man sich auf der bananenförmigen Bühnencouch niederlassen sollte, aber insgesamt war es ein gelungener Auftakt zur 74. Berlinale.

Dass er reich an politischen Plädoyers war, erklärt sich angesichts der Weltlage und der vorangegangenen Auseinandersetzungen rund um die Einladungspolitik von selbst. Kurz zuvor gab es auf dem roten Teppich noch Protest – nicht aber von der ausgeladenen AfD, sondern von deutschen Filmschauspielern gegen rechts. Eine Geste, der sich nun auch die vormals zaudernde Doppelspitze und Kulturstaatsministerin Claudia Roth voll und ganz anschließen konnten.

Stimmung: "Cool"

Die Stars der Eröffnung: Matt Damon und Cillian Murphy.
Die sympathischen Stars der Eröffnung: Matt Damon und Cillian Murphy.
AFP/JOHN MACDOUGALL

Die Stimmung unter den ähnlich Gesinnten im vorab mit Techno eingeheizten Saal – es war an der Zeit, dass das Festival vom Musikmarkenzeichen Berlins profitiert – war entspannt. "Ihr seid so cool", sagte deshalb Matt Damon, der in seiner Funktion als Produzent des Eröffnungsfilms Small Things Like These anwesend war.

Vielleicht hat Damon damit der identitätssuchenden Berlinale ihre neue Marke aufgedrückt. Denn als "cool" könnte sich die Konkurrenz in Cannes oder Venedig niemals bezeichnen. Zumindest bei ihren Jurypräsidentinnen haben Chatrian und Rissenbeek schon auf die richtigen Karten gesetzt: letztes Jahr Kristen Stewart, heuer Lupita Nyong’o. Cooler geht es kaum.

AfD-Präsenz muss ausgehalten werden

Die kenianische Schauspielerin Lupita Nyong'o brachte als Jurypräsidentin den Hollywood-Glamour mit.
Die kenianische Schauspielerin Lupita Nyong'o brachte als Jurypräsidentin den Hollywood-Glamour mit.
REUTERS/LISI NIESNER

Nyong’o brachte in ihrer weißen Abendrobe nicht nur Hollywood-Glamour, sie ist außerdem die erste schwarze Jurypräsidentin des Festivals. Mit ihr wird in den folgenden Wochen eine illustre Juryrunde über den Wettbewerb abstimmen. Darunter die aus Hongkong stammende Regisseurin Ann Hui (das Filmmuseum widmete ihr letztes Jahr eine Retrospektive) oder der deutsche Regieliebling Christian Petzold, der die Ausladung der AfD-Abgeordneten kritisierte: "Wenn wir es nicht aushalten, dass fünf Personen von der AfD im Publikum sitzen, werden wir unseren Kampf verlieren", meinte er bei der Jury-Pressekonferenz am Donnerstag. Seine Jurykollegin, die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko, fand indes kluge Worte zur absurden Gleichzeitigkeit des Lebens im Kriegszustand.

All die einsamen Leute

Diese Jury wird heuer aus zwanzig Filmen einen Gewinner küren. Dass Cillian Murphy darunter ist, ist unwahrscheinlich. Zwar verkörpert er im Eröffnungsfilm Small Things Like These einen Kohlenhändler und Familienvater mit großer Verletzlichkeit, aber das realistisch inszenierte Drama von Tim Mielants überzeugt in seiner distanzierten Bearbeitung des irischen Magdalenenheim-Traumas nicht ganz.

Überraschender ist My Favourite Cake des Regieduos Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha. Da den Iranern die Ausreise verwehrt wurde, konnten sie bei der Premiere ihres Films nicht anwesend sein – das bekannte repressive Spiel des iranischen Regimes.

Die wunderbaren Hauptdarsteller von
Die wunderbaren Hauptdarsteller von "My Favourite Cake" Esmail Mehrabi und Lily Farhadpour mit einem Bild ihrer Regisseure: Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, die nicht aus dem Iran ausreisen durften.
REUTERS/NADJA WOHLLEBEN

In My Favourite Cake entscheidet sich eine 70-jährige Frau, ihre Einsamkeit zu beenden, und reißt sich einen freundlichen gleichaltrigen Taxifahrer auf. Beide haben die beste Nacht ihres Lebens, denn vor der allgegenwärtigen Sittenpolizei fürchten sie sich nicht, doch ein Happy End ist ihnen nicht beschert. Das scheint im Iran derzeit schlicht nicht möglich. Ein berührender Film für ein breites Publikum, der die Repression des Staats im Leben derer auffächtert, die die Zeit vor der Revolution noch kannten.

Die Tragikomik der Selbstakzeptanz

Außerdem feierte Aaron Schimbergs Dramödie A Different Man Premiere. Nach Chained for Life, der vor einigen Jahren in der Berlinale-Parallelveranstaltung Woche der Kritik lief, spielt Adam Pearson eine zentrale Rolle. Der Schauspieler leidet am Proteus-Syndrom, einer Krankeit, die zu starken Verwachsungen im Gesicht führt.

A Different Man entwirft ein ähnliches Szenario, wie man aus Todd Phillips Joker kennt. In einer einigermaßen heruntergekommenen Wohnung einer Großstadt lebt der erfolglose und am Proteus-Syndrom erkrankte Schauspieler Edward (Sebastian Stan). Seine Nachbarin ist die anstrengend-entzückende Ingrid, eine angehende Dramatikerin, die sich mit Edward anfreundet. Als er plötzlich von seiner Krankheit geheilt wird, ändert sich sein Leben schlagartig. Nun ist er attraktiv und erfolgreich und nennt sich Guy.

Sebastian Stan, Renate Reinsve und Adam Pearson im Wettbewerbsfilm
Sebastian Stan, Renate Reinsve und Adam Pearson im Wettbewerbsfilm "A Different Man".
© Faces Off LLC

Eines Tages begegnet er Ingrid wieder, die gerade einen Schauspieler für die Rolle des Edward in ihrem ersten Stück sucht. Sie erkennt ihn in Guy nicht wieder, aber er verkörpert die Rolle mit Maske so authentisch, dass sie ihn besetzt. Dann taucht Oswald (Pearson) auf, ein Mann, der trotz Missbildungen weitaus erfolgreicher durchs Leben geht als Edward es konnte. Das führt zu einer ins Absurde eskalierenden Konkurrenzsituation.

Schimbergs Film ist eine durch die Genres mäandernde Reflexion über Außenseitertum, Attraktivität, Besetzungspolitik und Selbstakzeptanz. Mit seinem jazzigen Sound und der von 2000er-Sitcom und New Hollywood inspirierten Atmosphäre ist er vieles zugleich: ungewöhnlich, selbstreflekiv, schematisch, schmerzhaft und absurd komisch. Doch ist er ein Gewinner? Darüber darf die Jury streiten. (Valerie Dirk, 16.2.2024)