Wien – Es hält sich hartnäckig das Vorurteil, dass Männer dem Vorspiel zu wenig Aufmerksamkeit schenken würden. Das Gegenteil ist der Fall! Jan Lisiecki begeisterte das Publikum im Großen Saal des Konzerthauses mit einem Programm, welches das Vorspiel (auch: Präludium, Prélude) zum Hauptakt erhob. In erratischem Zickzack vagabundierte Lisiecki durch die Musikgeschichte, hüpfte von Chopin zu Bach zu Rachmaninow und weiter zu Szymanowski und Messiaen.

Meister der Exaktheit

Der 28-Jährige erwies sich dabei als Meister der Exaktheit. Selbst die tornadoartigen Tonfolgen in den zwei (Mitte der 1950er-Jahre entstandenen) Präludien von Henryk Mikołaj Górecki – eine Entdeckung! – präsentierte er mit maschineller Präzision. Bei den Hits, Rachmaninows cis-Moll Prélude op. 3/2 und dem g-Moll Prélude op. 23/5 beeindruckte Lisiecki vorrangig mit Alleskönnertechnik und interpretatorischer Akribie.

Sein musterschülerhaftes Wesen legte der Kanadier in der zweiten Konzerthälfte fallweise ab: Bei den 24 Préludes op. 28 von Frédéric Chopin gab Lisiecki oft den Berserker und fand zu vulkanischer Fulminanz. Das unruhige, lungenleidende Publikum dankte dem schlanken jungen Künstler für diese künstlerische Klimax mit stehendem Beifall, eine Zugabe folgte. (sten, 20.2.2024)