Gedenken an Nawalny in Frankfurt am Main.
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Vier Tage nach der Bekanntgabe des Todes von Alexej Nawalny am vergangenen Freitag sind weiterhin wesentliche Punkte ungeklärt. Abgesehen vom bloßen Faktum des Ablebens des inhaftierten 47-jährigen Oppositionellen bleiben zahlreiche Fragezeichen. Nachfragen der Familie und Anhänger Nawalnys scheitern an der Mauer des Schweigen der russischen Behörden.

Wann starb Nawalny?

Nicht einmal der genaue Todeszeitpunkt Nawalnys ist klar. Der Tod des Aktivisten wurde von der Justizbehörde, die für das Straflager Polarwolf im Ort Charp am Sob nahe des Polarkreises zuständig ist, am 16. Februar um 14.19 Uhr bekanntgegeben. In das Lager war der zu insgesamt dreißig Jahren Haft verurteilte Nawalny erst im Dezember verlegt worden. Nawalnys Mutter Ljudmila Nawalnaja wurde noch am selben Tag von der Gefängnisverwaltung mitgeteilt, dass ihr Sohn bei einem Spaziergang kollabiert sei und das Bewusstsein verloren habe. Als die 69-Jährige am Samstag vor Ort in der Strafkolonie eintraf, erhielt sie die offizielle Bestätigungsmeldung des Todes, auf der der Todeszeitpunkt mit 14.17 Uhr vermerkt war.

Doch mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit ist Nawalny nicht erst am Freitag gestorben. Jedenfalls schienen die russische Obrigkeit und die Medien auf die Todesmeldung gut vorbereitet gewesen zu sein. Putins Sprecher Dmitri Peskow gab keine Viertelstunde nach dem offiziellen Todeszeitpunkt des Gefangenen bereits eine Stellungnahme ab.

Die in Russland verbotene Kreml-kritische "Nowaja Gaseta Europa" berichtete unter Berufung auf einen Häftling des Straflagers, es habe am Abend des 15. Februar einen unerklärlichen Aufruhr gegeben. Demnach wurden die Häftlinge nach einer Kontrolle in ihre Baracken gesperrt, worauf mehrere Fahrzeuge auf dem Gelände vorfuhren. Am nächsten Morgen wurden im Rahmen einer Razzia Handys beschlagnahmt. Schon um zehn Uhr habe man dann erfahren, dass Nawalny tot sei. Erst danach sei ein Krankenwagen eingetroffen. Die Zeitung schließt daraus, dass Nawalny bereits am Donnerstagabend gestorben sein muss.

"Das Glück ist nicht weit", ist auf einer Anhöhe beim Straflager Polarwolf zu lesen.
REUTERS/MAXIM SHEMETOV

Wo ist Nawalnys Leichnam?

Seit der Todesmeldung versuchen Familie und Anhänger des Aktivisten, den Verwahrungsort des Leichnams zu lokalisieren. Nawalnys Mutter wurde bei ihrem Besuch in Charp am Samstag mitgeteilt, der Leichnam befinde sich in der einige Kilometer entfernten Stadt Salechard in der Leichenhalle des örtlichen Krankenhauses. Dort war am Wochenende niemand anzutreffen, am Montag wurde sie vom Personal abgewiesen – ohne dass man ihr über den Verbleib der Leiche etwas mitteilte.

Dass Nawalnys Leichnam tatsächlich nach Salechard transportiert wurde, dürfte zutreffen. Die "Nowaja Gaseta Europa" berichtete unter Berufung auf einen anonymen Mitarbeiter der Notfalldienste, dass die Leiche im Krankenhaus von Salechard gesehen wurde – allerdings nicht von der anonymen Quelle selbst, sie beruft sich auf einen Kollegen im Krankenhaus.

Das oppositionelle Medium "Mediazona" berichtete über einen Konvoi aus mehreren Fahrzeugen der Gefängnisverwaltung, der sich in der Nacht von Freitag auf Samstag von Charp nach Salechard bewegte. Dies wird von Aufnahmen aus Überwachungskameras untermauert. Nawalnys Leichnam sei demnach in einem Ambulanzfahrzeug nach Salechard transportiert worden. Der weitere Verbleib ist unklar: Vermutet wird von Nawalnys Team, dass der Leichnam nach Moskau gebracht wurde.

Woran starb Nawalny?

Der Mutter wurde Nawalnys Organisation zufolge mitgeteilt, dass ihr Sohn an einem plötzlichen Sekundentod verstorben sei. Damit wird üblicherweise ein Tod nach einem Herzstillstand ohne äußerlich erkennbare Ursache auf unkonkrete Weise umschrieben. Regierungsnahe Medien berichteten von einem Blutgerinnsel als Todesursache. Das staatliche russische Untersuchungskomitee erklärte, dass die Untersuchungen der unklaren Todesursache Nawalnys noch zwei Wochen dauern würden.

Eine von zehntausenden Menschen unterzeichnete Petition an das Komitee fordert die Freigabe der Leiche. Dem Informanten der "Nowaja Gaseta Europa" zufolge weist Nawalnys Leiche Hämatome auf, die möglicherweise auf Krämpfe ante mortem hindeuten könnten. Auf der Brust sei ein für eine Herzmassage typisches Hämatom zu sehen – dies deckt sich mit offiziellen Angaben, wonach Wiederbelebungsmaßnahmen durchgeführt worden seien. Zu dem Zeitpunkt am Samstag, zu dem der Leichnam von dem Augenzeugen gesehen worden sein soll, hat jedenfalls noch keine Obduktion stattgefunden.

Wird Nawalnys Tod jemals aufgeklärt werden?

Sollte Nawalny im Polarwolf-Lager tatsächlich ermordet worden sein, wie seine Familie dem russischen Diktator Wladimir Putin vorwirft, so wird eine staatlich durchgeführte Obduktion sicherlich keine entsprechenden Hinweise dafür liefern. Doch auch bei einer Freigabe des Leichnams für die Familie ist an eine von unabhängigen Stellen durchgeführte Obduktion innerhalb Russlands ebenso wenig zu denken wie an eine Außerlandesbringung von Nawalnys Leichnam. Eventuell könnte es Nawalnys Lager schaffen, Proben für Analysen aus Russland zu bringen. Allerdings wird ein Nachweis eines eventuellen neuerlichen Mordanschlags durch den Faktor der verstrichenen Zeit erschwert. Vom reinen Augenschein des Aussehens der Leiche, zum Beispiel auf Basis der Berichte über Hämatome, sind valide Rückschlüsse auf die Todesursache jedenfalls auszuschließen. (Michael Vosatka, 20.2.2024)