Der Prozess um die Frage, ob Wikileaks-Gründer Julian Assange aus britischer Hochsicherheitshaft in die USA abgeschoben werden soll – oder nicht –, hat die britische Politprominenz auf den Plan gerufen. Unter ihnen ist der ehemalige Chef der Opposition im Unterhaus und Ex-Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn. Er kritisiert die liberalen Medien scharf: Diese hätten versagt.

STANDARD: Gabriel Shipton hat seinen Bruder Julian Assange mit dem getöteten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny verglichen. Was halten Sie von diesem Vergleich?

Corbyn: Julian Assange hat die Wahrheit gesagt. Er ist ein Held, der für die Freiheit von Meinung und Presse weltweit eintritt.

STANDARD: Warum wird Assange so hartnäckig von den USA verfolgt?

Corbyn: Die US-Justiz stützt sich ja auf das Spionagegesetz von 1917. Es soll jegliche genauere Untersuchung der amerikanischen Aktivitäten überall auf der Welt verhindern. Julian hat genau dies aufgedeckt. Übrigens befassten sich seine Enthüllungen nicht nur mit den USA, sondern auch mit der britischen Regierung, mit den Russen und mit vielen anderen.

Ex-Labour Chef Jeremy Corbyn sieht Julian Assange als
Ex-Labour Chef Jeremy Corbyn sieht Julian Assange als "tapferen Mann, der der Wahrheit zum Durchbruch verhalf".
IMAGO/Vuk Valcic

STANDARD: Wie wird die Geschichte Assange sehen?

Corbyn: Als sehr tapferen Mann, der der Wahrheit zum Durchbruch verhalf. In einer Reihe mit vielen anderen, zum Beispiel jenen, die den Verbrechen der Nazis in Deutschland in den 1930er-Jahren auf der Spur waren. Ein großer Investigativjournalist. Julian Assange hat die Wahrheit gesagt. Weshalb ich so enttäuscht bin über die britischen Medien, die ganz überwiegend den Fall Assange entweder ignorieren oder falsch darüber berichten.

STANDARD: Die ersten Wikileaks-Enthüllungen entstanden in Zusammenarbeit mit Medien wie dem "Guardian" und der "New York Times". Diese haben sich längst von Assange distanziert. Welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Corbyn: Dass diese Medien Schwäche zeigen, wenn es darum geht, für die Pressefreiheit und freien Journalismus einzutreten. Der "Guardian" und andere britische Medien haben sich auch früher schon so verhalten. Denken Sie nur an den Fall von Mordechai Vanunu.

Video: Weiter Tauziehen um Auslieferung von Assange in London.
AFP

STANDARD: Der israelische Techniker gab 1986 Details über Israels Atomwaffenprogramm an britische Zeitungen. Später wurde er vom Geheimdienst Mossad in seine Heimat gelockt und dort zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Corbyn: Ausgerechnet diese berühmten liberalen Publikationen "New York Times" und "Guardian" haben auch im Fall Assange jämmerlich versagt. Das ist sehr enttäuschend.

STANDARD: Welche Gründe sehen Sie dafür?

Corbyn: Ich fürchte, die Medien kommen unter hohen Druck von der Regierung und den Geheimdiensten beiderseits des Atlantiks. Journalismus besteht ja oft aus einer Balance zwischen dem Zugang zu wichtigen Regierungsquellen und der Wahrheit. Da haben die Medien schon häufiger Deals gemacht.

STANDARD: Wie gut sind Assanges Chancen im derzeitigen Verfahren?

Corbyn: Das ist für mich schwer einzuschätzen. Dass wir jetzt schon ein weiteres Berufungsverfahren gegen die bisherigen Beschlüsse haben, lässt mich auf die Stärke der juristischen Argumente schließen. Im Übrigen setze ich meine Hoffnung auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Da bekäme Julian gewiss ein faireres Verfahren.

175 Jahre Haft?

STANDARD: Glauben Sie den Äußerungen seiner Frau Stella, dass Assanges Auslieferung der Todesstrafe gleichkäme?

Corbyn: Ja. Ihm drohen in den USA 175 Jahre Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis. Wir wünschen ihm ein langes Leben, aber niemand wird 175 Jahre alt.

STANDARD: Für diese häufig zitierte Zahl werden die Höchststrafen bei Verurteilung in allen 18 Anklagepunkten addiert. Realistisch ist eine Freiheitsstrafe von vier bis sieben Jahren.

Corbyn: Ich finde das nicht so wichtig. Es bleibt doch dabei: Nach US-amerikanischen Gesetzen besteht die Möglichkeit einer Verurteilung zu mehreren lebenslangen Freiheitsstrafen. Und das zuständige Gericht kann davon Gebrauch machen. Das ist für mich Grund genug, mich gegen seine Auslieferung auszusprechen.

STANDARD: Die US-Vertreter haben "feierlich" versprochen, Assange werde keine Einzelhaft oder eine der "speziellen Behandlungsmethoden" (SAMs) à la Guantánamo Bay zuteil ...

Corbyn: Das war ja sehr interessant. Da wurde praktisch gesagt: Wir werden ihn nicht so schlecht behandeln wie andere Strafgefangene. Da haben sie praktisch zugegeben, dass es in ihren Gefängnissen furchtbar zugeht; dass die Zustände dort teilweise Foltermethoden gleichkommen. Ich würde in Julians Fall sagen: Darum geht es doch nicht. Sondern es geht darum, dass er überhaupt nicht im Knast sein sollte.

STANDARD: Zu guter Letzt die Frage: Werden Sie bei der nächsten Unterhauswahl wieder antreten?

Corbyn: Einstweilen bin ich noch hier. Über meine Zukunftspläne werden Sie beizeiten informiert. (Sebastian Borger, 21.2.2024)