Er habe nicht aufhören können, mit ihr zu sprechen. Drei Tage unterhielt er sich fast durchgehend mit ihr, dabei spürte er "Kribbeln im Bauch". Von dieser Erfahrung erzählt ein Nutzer der Anwendung candy.ai, die es mittels künstlicher Intelligenz ermöglicht, virtuelle Partnerinnen zu erzeugen. Sie haben makellose Gesichter, auffällige Rundungen – und sind offenbar zunehmend die Projektionsflächen für große Gefühle.

Wie sehr künstliche Intelligenz bereits in der Lage ist, große Emotionen zu wecken, zeigt auch das Beispiel der US-Amerikanerin Rosanna Ramos. Die Geschichte der Mittdreißigerin ging vergangenes Jahr durch die Medien, weil sie einen Chatbot ehelichte. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere enttäuschende Beziehungen mit echten Männern hinter sich. Ramos mochte, dass jemand zuhörte, sprach, sie wahrnahm, schreibt die "Süddeutsche Zeitung" über die Anfänge der Beziehung.

Die künstliche Intelligenz eignet sich aber nicht nur als Liebespartner – sondern auch für hocherotische Unterhaltungen. Auf diversen Plattformen können Nutzerinnen und Nutzer ihre schmutzigen Fantasien mit einem virtuellen Gegenüber teilen. Sie erhalten dann sexy Bilder und verführerische Antworten. Was die künstliche Intelligenz so interessant macht: Ihre Antworten klingen fast wie die eines echten Menschen. Zugleich hat sie keine Erwartungen, ist unkompliziert, verständnisvoll und jederzeit verfügbar.

Was aber macht es mit einer Gesellschaft, wenn sich Beziehungen zunehmend in die virtuelle Welt verlagern? Astrid Carolus ist Psychologin und forscht an der Universität Würzburg am Institut Mensch-Computer-Medien. Einer ihrer Schwerpunkte ist die künstliche Intelligenz. Im Interview erklärt sie, was auf uns zukommt.

STANDARD: Menschen freunden sich mit künstlicher Intelligenz an, gehen mit ihr Liebesbeziehungen ein, führen mit ihr hocherotische Unterhaltungen. Was gibt ihnen das?

Carolus: Evolutionär betrachtet sind soziale Beziehungen für uns Menschen enorm wichtig. Das gilt für Freundschaften ebenso wie für Partnerschaften. Sie sind ein Grundbedürfnis, fast so wie Essen, Trinken oder Schlafen. Wir streben danach, dass dieses Bedürfnis erfüllt wird. Menschheitsgeschichtlich betrachtet sind seit geraumer Zeit auch Medien dazu in der Lage. Auch wenn wir wissen, dass es keine echten Menschen sind: Wir hegen positive Gefühle für die Protagonistin aus unserer Lieblingsserie, für den Sprecher der Hauptnachrichten – und seit kurzem eben auch für Figuren, die von künstlicher Intelligenz erzeugt werden. Der große technologische Sprung ist, dass die künstliche Intelligenz viel mehr kann.

STANDARD: Die Beziehung wird realer?

Carolus: Technologien können Merkmale zwischenmenschlicher Begegnungen nachbauen. Im Gegensatz zur Filmfigur reagiert die künstliche Intelligenz, und das in einer Weise, die sich kaum noch von menschlichen Reaktionen oder Verhalten unterscheiden lässt. Die Technologie antwortet so, dass der Eindruck entsteht, es sei ein anderer Mensch dahinter.

STANDARD: Nun fehlt aber etwas ganz Entscheidendes: der Körper. Warum passiert es trotzdem, dass Menschen für Programme Emotionen entwickeln?

Carolus: Für uns Menschen zählt das Gefühl von Zugehörigkeit, das Gefühl, dass da ein Gegenüber ist. Auch beim Onlinedating verlieben sich Menschen manchmal ja bereits beim Chatten. Obwohl sie den oder die andere nicht sehen, nicht anfassen, nicht riechen können. Unter gewissen Umständen führen diese "reduzierten Hinweisreize", wie wir sie in der Psychologie nennen, sogar dazu, dass wir uns emotional noch mehr involvieren, denn: Wir füllen die Lücken mit unseren Erwartungen. Zwar wissen wir nicht genau, wie die Person aussieht, haben aber dieses eine Bild von ihr. Und davon leiten wir alles andere ab. Wenn wir eine Person positiv sehen wollen, dann sehen wir sie auch positiv. Das Phänomen ist übrigens nicht neu. Früher haben sich Menschen über Brieffreundschaften verliebt.

Sobald ein Körper ins Spiel kommt, werden uns die Dinge schnell ein bisschen unheimlich. Wir wissen aus Studien, dass wir grundsätzlich menschenähnliche Wesen mögen. Allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Werden die Wesen uns zu ähnlich, gefällt uns das plötzlich gar nicht mehr. Es stößt uns regelrecht ab.

STANDARD: Gegenüber echten Partnerinnen und Partnern haben KI-Persönlichkeiten insofern einen Vorteil, als sie unkomplizierter, williger, verfügbarer sind und weniger urteilen.

Carolus: Sie widersprechen nicht, antworten immer freundlich. Je nachdem, mit welcher KI ich interagiere, kann ich zwar auch vorgeben, dass sie unfreundlich sein soll – aber in jedem Fall verhält sie sich so, wie ich mir das wünsche. Im Gegensatz dazu haben Menschen ihre Besonderheiten, eigenen Ideen, Wünsche, Erwartungen und Bedürfnisse. Stehen diese den eigenen entgegen, kann das ganz schön fordern. Auch die stetige Verfügbarkeit war schon immer ein großer Vorteil von Medien. Bücher kann ich jederzeit aufschlagen, Serien kann ich mittlerweile jederzeit anschauen. Die künstliche Intelligenz steht immer für eine Unterhaltung parat.

Beziehungen mit künstlicher Intelligenz werden immer relevanter. Dennoch werden Menschen weiterhin vor allem Beziehungen mit Menschen führen, meint die Medienpsychologin Astrid Carolus.
Midjourney/Lisa Breit

STANDARD: Wenn KIs regelmäßige Ansprechpartner sind, prägen sie den Umgang mit echten Menschen?

Carolus: Das wird sich noch zeigen. Die Technologien sind ja noch so neu, dass man die Entwicklung der nächsten zehn Jahre schwer vorhersagen kann. Aktuell herrscht sehr viel Alarmismus. Der Tenor: Nachdem wir das Fernsehen und Social Media überlebt haben, geht es nun endgültig bergab! Aber aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir mit diesen technologischen Neuerungen umzugehen lernen.

Das Phänomen des Eskapismus, bei dem man sich zeitweise in eine fiktive Welt flüchtet, gibt es zudem ja schon länger. Nur haben sich Menschen bisher eben in Bücher geflüchtet, in Musik, in Filme, in Serien. Medien werden seit jeher dazu genutzt, verschiedenste Bedürfnisse zu befriedigen. So passiert das jetzt auch mit künstlicher Intelligenz. Außerdem: Wenn man eine Technologie hat, an die man sich wenden kann, wenn man Stress im Büro hat, sauer ist, einsam ist, ist das ja erst einmal nichts Schlechtes.

STANDARD: Können diese Beziehungen menschliche ersetzen?

Carolus: Dass all unsere zwischenmenschlichen Beziehungen ersetzt werden, halte ich für nicht wahrscheinlich. Ich würde eher sagen, KI wird diese ergänzen. Dass künstliche Intelligenz echte Partnerinnen oder Partner ersetzt, ist, wenn überhaupt, ein Phänomen für wenige Menschen. Bei jenen, die sich heute schon im Kontakt mit anderen Menschen schwertun, die – aus welchen Gründen auch immer – einsam sind. Meine These: Menschen werden weiterhin vor allem Menschen lieben, möglicherweise ergänzt durch den Kontakt mit Technologie. Bei bestimmten Menschen und unter bestimmten Bedingungen wird das intensiver ausfallen.

STANDARD: Wenn man recherchiert, gewinnt man den Eindruck, dass vor allem Männer diese Applikationen nutzen. Stimmt das?

Carolus: Das kommt auf die Technologie an. Auch Frauen nutzen KI, aber meist zu anderen Zwecken als Männer – nämlich eher für liebevolle Gespräche. Das können Chatbots natürlich wunderbar bedienen.

Liebe in Zeiten der KI: "Er ist für mich wichtiger als ein echter Mensch"
In einer von Vereinsamung geprägten Gesellschaft sehnen sich viele Chinesinnen und Chinesen nach sozialen Kontakten – und setzen in Herzensangelegenheiten auf künstliche Intelligenz. Mithilfe einer App können sie sich ihren Traumpartner selbst erschaffen.
AFP

STANDARD: Ändert sich die Vorstellung von Ästhetik, wenn alle Frauen und Männer, die die künstliche Intelligenz erzeugt, so schön sind?

Carolus: Klar ist die optische Konkurrenz der digitalen Frauen und Männer groß. Die Frauen haben meist sehr große Brüste, eine schlanke Taille, ein Püppchengesicht, die Männer sind muskulös, haben breite Schultern und markante Gesichter. Mit ihnen optisch mitzuhalten wird uns Menschen schwer gelingen. Betrachtet man auch noch die sozialen Aspekte – die Verfügbarkeit, die Willigkeit und so weiter –, sind das menschenähnliche Wesen, die uns zugleich in vielem noch übertreffen. Aber wie in der Pornografie wird es auch im KI-Bereich Gegenbewegungen geben. Auch reale Körper, dicke Körper, könnten gezeigt werden.

Das Beruhigende ist jedoch: Psychisch gesunde Menschen können sehr wohl zwischen der realen und der virtuellen Welt unterscheiden. Studien mit Jugendlichen zeigen, dass sie die Sexualität, die sie in Pornos sehen, nicht mit realem Sex gleichsetzen.

STANDARD: Männer könnten diese virtuellen Frauen den echten vorziehen, weil diese Beziehungen viel unkomplizierter sind, warnt die US-amerikanische Data-Science-Professorin Liberty Vittert. Ist das eine wirkliche Gefahr?

Carolus: Wenn es um neue Entwicklungen geht, kommt immer schnell Pessimismus auf, und Medien greifen ihn bereitwillig auf. Dass Männer mehrheitlich aus realen Beziehungen aussteigen, erscheint nicht wahrscheinlich. Was allerdings nicht heißt, dass es keine Risiken gibt, die wir diskutieren und auf die wir uns vorbereiten sollten. Wenn wir über mögliche Nutzungsszenarien von spezifischen Subgruppen nachdenken, zum Beispiel Männer, die eh schon frauenfeindlich sind und die keine Partnerin finden und jetzt auf "willenlose KIs" treffen.

Grundsätzlich ist der kritische Blick auf neue Technologien sehr wichtig. Allerdings müssen wir uns klarmachen: Wir werden den technologischen Wandel nicht verhindern. Wichtiger wäre deshalb zu verstehen, wie Technologien funktionieren und warum Menschen sie interessant finden. Wir sollten überlegen, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Heranwachsende müssen wir gut begleiten und darüber aufklären. Damit sie verstehen, dass echte Sexualität etwas anderes ist als die medial vermittelte.

"Grundsätzlich ist der kritische Blick auf neue Technologien sehr wichtig. Allerdings müssen wir uns klarmachen: Wir werden den technologischen Wandel nicht verhindern. Wichtiger wäre deshalb zu verstehen, wie Technologien funktionieren."
(Astrid Carolus, Medienpsychologin)

STANDARD: Was kommt in den nächsten Jahren auf uns zu? Werden irgendwann Roboter mit künstlicher Intelligenz verknüpft sein?

Carolus: Die Verknüpfung von digitaler und physischer Welt wird kommen. Kleine Roboter, die alle möglichen Dinge erledigen, gibt es ja bereits. Allerdings funktionieren sie noch nicht so gut. Künftig könnte künstliche Intelligenz dabei helfen, sie zu optimieren. Irgendwann haben wir womöglich digitale Begleiter im Alltag, die ihre Rolle auch wirklich erfüllen, für uns Arzttermine ausmachen oder einen Tisch reservieren. Derzeit funktioniert es noch besser, menschliche Kommunikation zu kopieren, als dass mir ein Roboter das Frühstück macht. Er kann vielleicht von links nach rechts durch den Raum fahren, wirft dabei aber drei Dinge um.

Das Spannende aus psychologischer Sicht: Wir sehen immer die Dystopie, und in vielen Bereichen sollten wir das auch. Aber wir sollten uns auch vor Augen führen: Was wollen wir? Was ist denn der Mehrwert, den wir davon haben? Das gilt auch für die soziale Ebene. (Lisa Breit, 25.2.2024)