Katharina Tiwald
Katharina Tiwald, geb. 1979 in Wiener Neustadt, studierte Sprachwissenschaft und Russisch in Wien, Sankt Petersburg und Glasgow. Erstes Buch 2005, erstes Stück 2006. Zuletzt "Mit Elfriede durch die Hölle" (2021) und "Macbeth Melania" (2020), beide im Milena-Verlag.
Katharina Tiwald

Vielleicht starre ich auf die Bilder in den Fotobüchern, träume von dieser Stadt, weil ich hier jung gewesen bin. So jung, dass ich einmal – ich schwöre, nur einmal – auf einen Tisch im Zinik geklettert bin und dort getanzt habe. In Jeans und BH.

Ich sehne mich.

Seit aber sogar O., meine russische, bald offiziell österreichische Bekannte, die sich nie regimekritisch geäußert hat, seit also O. erzählt hat, sie könne ihre Eltern nur mehr in Ankara oder Jerewan treffen, es sei zu gefährlich in Russland, das sei kein Rechtsstaat mehr, man könne im Gefängnissystem verschwinden, seitdem glaube ich – erstens – wirklich, dass ich Petersburg noch viele Jahre nicht wiedersehen werde. Zweitens steigert sich meine Sehnsucht, schlägt manchmal um ins beinah Kitschige. Aber auch im Kitsch gilt: Petersburg hat mit mir zu tun. Das betrifft die Bücher, die Texte, die ich schreibe; das betrifft die ukrainischen Kinder, für die ich in der Schule übersetze. Und meine Freunde. Ich streiche mit den Fingern über die Bücherwand, ein Regal ist vom Boden bis zur Decke voller Russen und Russinnen.

Während die Welt sich weiterdrehte, haben Fotografien die Vergangenheit festgehalten.
Katharina Tiwald

Petersburg in Wien

Manchmal ist Petersburg mitten in Wien. Zum Beispiel dann, wenn ich im Bauch der U4 ganz kurz den Wienfluss überquere, auf den Donaukanal zudonnere: Ein paar Synapsen querverbunden, und das Bild der Newa, all das mächtige Petersburger Wasser, schiebt sich wie bei einem Diawechsel, zerkratzt, vergilbt, in mein Bewusstsein.

Ich war Anfang zwanzig und das Jahrtausend jung, als ich mich durch den Schnee dieser Stadt arbeitete, minus fünfundzwanzig Grad, täglich nass bis über die Knie. Es war dauerdunkel, abgesehen von ein paar Stunden "zitronig-nördlichen Lichts" (Worte Wiktor Jerofejews). Eine Babuschka saß vor dem Schlüsselbrett im Studentenheim, Putin – auch ein Petersburger, ein ehemaliger Hinterhofrowdy – sah noch unverlebt aus, obwohl der zweite Tschetschenienkrieg in vollem Gange war. Wer über Tschetschenen redete, nannte sie manchmal "Schwarze", unsere südamerikanischen Kommilitonen wurden manchmal auf offener Straße zur Passkontrolle angehalten.

Buchweizengrütze in der Mensa

Um die Uni zu betreten, musste man sich ausweisen. Das Vorlesungsverzeichnis existierte in genau einer Ausgabe, in Form eines handgeschriebenen Plans, der eine ganze Wand bedeckte. Mir schmeckte die Buchweizengrütze in der Mensa. Die meisten russischen Kommilitoninnen schlugen verschämt die Augen nieder, wenn ich sie naiv fragte, ob sie einen Kaffee trinken gehen wollten, schließlich gab es auf dem Newski Prospekt allerlei funkelnde Coffeeshops.

Julija kam mich stattdessen manchmal im Studentenheim besuchen, wir kochten in der Gemeinschaftsküche. Und in einer Bar lernte ich in der Schlange vor dem einzigen Klo Wanja und die anderen kennen.

Mir fällt im heurigen Herbst der Name dieser Bar – Zinik – eine Weile lang nicht ein. Eine Woche lang. Zwei Wochen lang, während ich über diesen Text nachdenke. Ich möchte Wanja nicht deswegen anschreiben, der hat – er lebt seit gut eineinhalb Jahren in Israel – jetzt andere Fragen im Kopf.

Viele Details blieben ihr im Gedächtnis.
Katharina Tiwald

Zauberreich gegen Zweckapartment

Im August haben wir uns gesehen, er hat sein Zauberreich von Petersburger Altbauwohnung gegen ein kleines, wie aus Schachteln zusammengesetztes Jerusalemer Zweckapartment getauscht. Tauschen müssen. In Petersburg saßen wir vor zwanzig, vor zehn, vor fünf Jahren um den riesigen, runden Tisch in seiner Küche, ein Rudel von Freunden, aßen seine eingelegten Pilze, tranken seinen hausgemachten Krenlikör (ja, das gibt es). Im Herbst 2012, es war eine von inzwischen mehreren, zu vielen Wahlnächten, die eine neue Amtszeit Putins einläuteten, wurden von Wanjas Wohnung aus Teams von Wahlbeobachter:innen koordiniert. Ich saß damals zwischen all der Geschäftigkeit und blätterte in der Ratgeberbroschüre: Wahlbeobachter sollten eine Taschenlampe mitnehmen, stand da, denn manchmal werde beim Auszählen das Licht ausgeschaltet.

Zehn Jahre später saß ich eines Nachts am Laptop und ergoogelte Flugpreise, ich wollte zu Wanjas rundem Geburtstag nach Petersburg reisen. In der Früh marschierte Russland in die Ukraine ein.

Kriegsalltag

Das Licht ist aus.

Die Küche in Jerusalem ist winzig, am Tisch haben mit Ach und Krach drei Leute Platz. Gut, dass das Kind erst zehn ist. Im Viertel sind viele Frauen in langen Röcken und mit bedecktem Haar unterwegs, Männer in Weiß-Schwarz, das hier ist genauso Sehnsuchtsstadt, ungleich mehr noch als St. Petersburg. Ich habe es gefühlt, als ich vor dem Loch hingekniet bin, in dem das Kreuz von Jesus gesteckt haben soll. Die Stelle ist mit einem Altar überbaut, auf den ungeduldig mit der flachen Hand ein Priester schlägt, wenn jemand zu lange, zu ergriffen kniet, vor allem die orthodoxen – was? Russinnen? Ukrainerinnen?

Wie ist es denn jetzt in Petersburg?, frage ich Wanja, der vor kurzem dort war, um die Vermietung seiner Wohnung zu regeln. Er zuckt die Achseln und meint: normal. Die Leute gehen ihrem Alltag nach.

Reisen wie Aladin

Aber was ist das schon, Alltag?

Ich schreibe Julija an, die seit langem in Paris lebt. Sie antwortet sofort, lobt mein Russisch. Schreibt, sie sei seit zwei Jahren nicht in Petersburg gewesen. Sie fühle sich, als habe man ihr einen Körperteil abgeschnitten. Sie ertrage es nicht, dass das Leben dort weitergehe, als ob nichts geschehen wäre. Angst habe sie nicht. Sie ertrage es einfach nicht.

Ich habe den Namen des Zinik ergoogelt. Auf einer Webseite, die geschlossene Petersburger Bars dokumentiert, lese ich, dass an der Stelle, wo wir damals tranken und Knoblauchbrot aßen, ein Hotel steht, es gehört zur Radisson-Kette, die Fassade sieht aus, als sei man in den Achtzigern aufgewacht. Reisen? Reisewarnung.

Wanja ist jetzt auch ständig am Reisen: Gruppenreisen leiten, das ist sein Beruf. In die USA, nach Europa, Afrika, Asien.

Ich reise. Nachts. Wie Aladin auf dem Teppich.

Markt
Bunter Marktstand: An Sankt Petersburg knüpfen sich für die Autorin Tiwald viele Erinnerungen.
Katharina Tiwald

Träume von Petersburg

Ich träume in Zyklen von Petersburg, zuletzt stand ich in einem dunklen Korridor, über mir eine nackte Glühbirne, ich bin sicher, es stank nach Katzenpisse, es hat in meiner Zeit in Petersburg in solchen Korridoren immer nach Katzenpisse gerochen. Aber der Traum war nicht unangenehm, weil ich nicht allein war: Wanja war da, und ich bin sicher, hinter der Tür, die sich bestimmt gleich öffnen würde, hatten sich die Freunde versammelt, die seinen Küchentisch wie den ihren wahrnahmen.

Der Geruch ist wahrscheinlich Vergangenheit. Russland ist weitergerollt. In moderne Zeiten. Ulrich, der voriges Jahr in Petersburg war, erzählt mir, der Schub sei enorm. Keine illegalen Taxis mehr, keine ausrangierten Westbusse, keine bettelnden Frauen wie in unserer Studienzeit. Manches aber bleibt gleich: Wenn ich mit dem Finger über die Russenbücher und Bücher über Russland streiche, die sich in meinem Regal angesammelt haben, dann kann ich allein aus einigen Buchtiteln herauslesen, dass vor zwanzig wie vor zwei Jahren viele Leute wussten, in welche Richtung sich die Führung dieses Landes bewegt.

Cannes-würdig

Es mag ein wenig Lust am Exotentum gewesen sein, die mich damals hierhergetrieben hat: Russland, da sind die schrägen Typen unterwegs, hier lebt das Entgrenzte, das Unerwartete, Große. Diese Erwartung ist, Hand aufs Herz, ein gesamtwestliches Phänomen. Sogar Cannes-würdig. Im – zugegeben sehr charmanten – Film Abteil Nr. 6 reist eine finnische Studentin nach Murmansk und verbringt gezwungenermaßen die tagelange Reise mit einem russischen Prolo im Zugabteil. Auf Zwischenstopps klaut er ein Auto, besorgt Salzgurken, liefert sich selbst eine Schneeballschlacht auf den Gleisen und rutscht aus (er trägt nur Plastikschlapfen). Natürlich herrscht in Murmansk tiefster Winter, Schneesturm. Gut für die Kamera. Wieder ein neues Erlebnis – letztlich ermöglicht davon, dass es sich hier um ein Kolonialreich handelt: Die Größe ist erobert, nicht naturgegeben (und Halbunterweltler entpuppen sich nicht immer als weichherzig). Hier ist der Traum vom Kollektiv immer schon mit Zwangskollektivierung verwechselt worden, all das übrigens Ingredienzien des feucht-faschistoiden Traums, den sämtliche europäischen Rechtsparteien von Russland träumen.

Dann allerdings gibt es noch das Pathos des Guten. Ich glaube, ich wollte Russisch lernen, seit ich als Kind dauernd einen Mann mit Feuermal auf der Glatze im Fernsehen sah, von dem ich irgendwie fühlte, dass von ihm etwas Großartiges ausging.

Gebäude
Wo sonst auf der Welt gibt es mehrere Dichtermuseen in einer Stadt?
Katharina Tiwald

Mehrere Dichtermuseen

Petersburg hat mir das Große und Gute auch immer bestätigen wollen. Nebenbei: Wo sonst auf der Welt gibt es mehrere Dichtermuseen in einer Stadt – Puschkin, Dostojewski, Achmatowa, Nabokow? Neben der Gewaltgeschichte, deren neuestes Kettenglied Putin geschmiedet hat, gibt es eine nicht abreißende, starke Tradition der Arbeit am Guten, gegen alle Eigeninteressen, gegen alle Vorstellungen von Schutz und Sicherheit.

Grigori, auch er ein Dauergast an Wanjas Küchentisch, ist voriges Jahr auf seiner Autofahrt durch Europa in Wien stehengeblieben. Hat in meiner Schulklasse Fragen beantwortet, zum Beispiel die, ob er sich als Flüchtling fühle. Was seine Lieblingsfußballmannschaft sei. Er fuhr weiter nach Georgien, hat dort eine NGO aufgebaut, in der Russen, die sich dem Militärdienst entziehen wollen, beraten werden. Sie heißt "Idite Lesom" – wörtlich: Geht durch den Wald, frei übersetzt: Schleicht euch. An der Heckscheibe trug sein Auto riesige Aufkleber: Freiheit für politische Gefangene! Im November ist Grigori offiziell zum "ausländischen Agenten" erklärt worden, wie eine Vielzahl auffälliger und weniger auffälliger Kritiker des Putin’schen Regimes.

Vorige Woche habe ich im Exotenregal eines Supermarkts zwischen Tacos und Glasnudeln eine Dose entdeckt und war wieder für Minuten in Petersburg: Kondensmilch. Die gab es in Österreich früher nur in der Tube für die zarte Dosierung. Jetzt hat das russische Format es hierher geschafft! An den Petersburger Blini-Ständen war das meine Lieblingsfüllung, klebrig-dicke Paste, jetzt steht die offene Dose in meinem Kühlschrank, ich decke alles, was süß ist, mit Kondensmilch zu. Klotzen, nicht kleckern.

Manche von uns erwarten von Russland die Rettung der Welt.

22.256 Leuten hat "Idite Lesom" bisher geholfen. (Katharina Tiwald, 25.2.2024)