Zum ersten Mal seit mehr als dreißig Jahren ist ein ehemaliger Bundeskanzler strafrechtlich verurteilt worden: Am Freitagabend sprach Richter Michael Radasztics Exkanzler Sebastian Kurz und seinen früheren Kabinettschef Bernhard Bonelli wegen Falschaussagen im U-Ausschuss schuldig. Der frühere ÖVP-Chef bekam acht Monate bedingt, Bonelli sechs Monate. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Wie der Richter das begründet hat und was seine Entscheidung bedeutet – ein Überblick.

Kurz
Sebastian Kurz nach der Urteilsverkündung
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1. Es geht um das Gesamtbild, nicht um Wortklauberei

Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) hatte Kurz insgesamt drei Falschaussagen im Ibiza-U-Ausschuss vorgeworfen. Dort war der damalige Kanzler im Juni 2020 zu Personalentscheidungen befragt worden. Es ging vor allem um die Staatsholding Öbag, die unter Türkis-Blau gegründet worden war. Sie verwaltetet staatliche Beteiligungen im Wert von mehr als zwanzig Milliarden Euro, etwa an der Casinos Austria AG (Casag) oder der OMV.

Wenige Wochen vor dem Ende der türkis-blauen Koalition war der langjährige Kurz-Vertraute Thomas Schmid zum Öbag-Chef aufgestiegen. Das hatte für viel Aufregung gesorgt, weil Schmid sich zuvor als Generalsekretär im Finanzministerium mit der Öbag-Gründung befasst hatte. Die Opposition sah einen klaren Fall von parteipolitischer Postenbesetzung.

Video: Kurz-Prozess: Bedingte Freiheitsstrafen für Ex-Kanzler und Bonelli.
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Im U-Ausschuss antwortete Kurz damals sehr knapp und verwies darauf, dass der Finanzminister die Aufsichtsräte der Öbag bestellt hatte und diese dann unabhängig Schmid als Alleinvorstand ausgewählt hatten. Er habe von Gesprächen und Überlegungen gewusst, aber nicht mitentschieden, sagte Kurz damals.

Die Ermittler der WKStA entdeckten allerdings Chats, die nahelegten, dass der Kanzler und sein Team deutlich stärker als von Kurz dargestellt mitmischten.

Das sah auch Richter Michael Radasztics in der mündlichen Urteilsbegründung so: Kurz habe mit seinen Antworten im U-Ausschuss den Eindruck erweckt, er habe im Wesentlichen nichts mit der Auswahl der Aufsichtsräte bei der Öbag zu tun gehabt.

Der Kanzler habe immer wieder betont, dass er nicht entschieden habe; aber seine Einbindung verschwiegen. Es gehe also nicht um einzelne Antworten von Kurz, sondern um das Gesamtbild.

Dasselbe gelte für seinen Kabinettschef Bernhard Bonelli, der in der Sache ebenfalls schuldig gesprochen wurde. Bonelli habe bei seiner Befragung ebenfalls die "Hintergrundmusik" rund um die Öbag-Personalien verschwiegen, erklärte der Richter.

2. Der Richter hat sich einiges überlegt

Richter Radasztics nahm sich 45 Minuten Zeit, um sein Urteil zu erklären – ungewöhnlich lang und detailliert. Er erklärte auch, warum Bonelli und Kurz in nur jeweils einem Anklagepunk schuldig gesprochen wurden. So wurde Kurz rund um den Vorwurf, falsch über den Schmid-Schiefer-Deal ausgesagt zu haben, freigesprochen. Da ging es um die Frage, wieviel der Kanzler von Vereinbarungen zwischen FPÖ-Verhandler Arnold Schiefer und Thomas Schmid gewusst hatte. Auch bezüglich des Vorwurfs, Kurz habe im U-Ausschuss verschwiegen, dass er Schmids Aufstieg zum Öbag-Chef betrieben habe, gab es einen Freispruch.

Richter Michael Radasztics
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Einerseits seien da die Fragen der Abgeordneten nicht präzise genug gewesen, andererseits sei nicht bewiesen, dass Kurz tatsächlich falsch ausgesagt habe. So habe Schmid selbst relativiert, dass er zwar die Unterstützung von Kurz gehabt habe, dieser habe ihn aber sinngemäß nicht mit aller Kraft zum Öbag-Chef gemacht, indem er etwa bei den zuständigen Aufsichtsräten interveniert habe. Auch Bonelli wurde in drei von vier Punkten freigesprochen.

3.Der U-Ausschuss als "schwierige" Situation

Wie es sich anfühlt, in einem U-Ausschuss befragt zu werden, weiß Richter Radasztics aus eigener Erfahrung: Er war einst als Staatsanwalt mit den Eurofighter-Ermittlungen befasst und als Auskunftsperson dazu ins Parlament geladen worden. Später wechselte er von der Staatsanwaltschaft Wien in den Richterstand.

In seiner Urteilsbegründung gab Radasztics Kurz insofern Recht, dass die Situation vor einem U-Ausschuss "ungleich schwieriger" als etwa eine Aussage vor Gericht sei. Kurz selbst hatte von einer feindseligen Stimmung gesprochen und von Gesten und Grimassen der Abgeordneten, die ihn verunsichert hätten. Radasztics gestand durchaus zu, dass im U-Ausschuss Suggestivfragen gestellt würden und dass Auskunftspersonen aufs Glatteis geführt werden sollen. Doch das Gesetz unterscheide nicht zwischen Falschaussagen vor dem U-Ausschuss und jenen vor Gericht oder Ermittlern.

Kurz vor Verhandlungsbeginn, begleitet von Anwalt Otto Dietrich (links) und ÖVP-Anwalt Werner Suppan (rechts)
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Außerdem seien parlamentarische Untersuchungen ein wichtiges Instrument der Demokratie, "Checks und Balances" eben. Als Kanzler habe man hier eine besondere Vorbildwirkung.

4. Kurz’ verpasste Chancen – und das Image als Motiv

Immer wieder betonten Kurz und sein Verteidiger Otto Dietrich, dass der damalige Kanzler im U-Ausschuss zwar korrekt und wahr ausgesagt, aber gleichzeitig Angst vor Strafverfolgung gehabt habe. Hätte der Richter Letzteres als Motiv für eine Falschaussage gesehen, wäre ein Aussagenotstand schlagend geworden und somit ein Freispruch.

Doch Radasztics folgte der WKStA in deren Argumentation, Kurz habe rund um die Bestellung der Öbag-Aufsichtsräte falsch ausgesagt, um das Image der türkisen ÖVP zu bewahren. Der Parteichef habe vermeiden wollen, dass Abgeordnete nach dem U-Ausschuss trommeln, dass die Kurz-Bewegung Postendeals nach altem Stil betreibe. Einen Aussagenotstand sah der Richter nur in einem Anklagepunkt, der Bonelli betraf.

Zudem hieß es in der Begründung, hätte Kurz tatsächlich große Angst vor einer Strafverfolgung gehabt, hätte er sich wohl sehr genau auf die Befragung im U-Ausschuss vorbereitet; Kurz sagte aber gegenteilig aus.

Kurz selbst hatte mehrere Chancen verpasst, um straffrei aus dem Verfahren zu kommen. Zwar sagte der Exkanzler am Freitag sinngemäß, er hätte womöglich vieles besser machen können, einen klaren Fehler räumte er aber nie ein. Anders war das bei Ex-Casinos-Managerin und ÖVP-Vizeparteiobfrau Bettina Glatz-Kremsner, die zunächst ebenfalls wegen Falschaussagen mitangeklagt war. Sie übernahm bereits am ersten Verhandlungstag Verantwortung und gab an, sie hätte sich besser auf die Befragungen vorbereiten sollen. Daraufhin schlug der Richter eine Diversion vor. Glatz-Kremsner willigte ein, muss eine Geldbuße bezahlen und schied somit ohne Verurteilung aus dem Verfahren aus.

Kurz und Bonelli erkannten hingegen beide nie an, dass die Vorwürfe der WKStA zumindest teilweise berechtigt waren. Kurz wiederholte in seinen Schlussworten vor der Urteilsfindung mit brüchiger Stimme, er fühle sich "wehrlos", weil andere seine Worte falsch interpretierten. Bonelli sprach vom Prozess als dem "Erniedrigsten, das ich je erlebt habe" und erzählte von Wallfahrten nach Mariazell und Polen und von seinen Kindern. Seine Tochter habe gefragt ob er, Daddy, ins Gefängnis müsse, sein Sohn eine Zeichnung mit dem Richter und dem lieben Gott angefertigt. Verantwortung übernahmen weder Kurz noch Bonelli.

5. Schmid hat gute Chancen auf den Status als Kronzeuge

Die Zeugenbefragung von Thomas Schmid war in diesem Prozess wohl einer der entscheidenden Beweise für den Schuldspruch gegen Kurz. Schmid hatte seinen früheren Vertrauten belastet und ausgesagt, Personalentscheidungen seien ganz anders abgelaufen als von Kurz im U-Ausschuss dargestellt – nämlich über eine Art "zentralisiertes Personalmanagement" im Kanzleramt.

Für Radasztics wirkte Schmid glaubwürdig – auch, weil er Kurz durchaus stärker hätte belasten können. Schmids Aussagen rund um dessen Bestellung zum Öbag-Chef entlasteten den Exkanzler beispielsweise, deshalb wurde Kurz in diesem Punkt auch freigesprochen.

Thomas Schmid bei seiner Aussage im U-Ausschuss
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Die Versuche der Verteidigung, Schmids Glaubwürdigkeit durch zwei russische Zeugen zu erschüttern, verfingen nicht. Es sei "völlig weltfremd", dass Schmid sich im Sommer 2023 mit zwei wildfremden Russen getroffen und dort eingeräumt habe, vor der Staatsanwaltschaft zu lügen, sagte der Richter sinngemäß. Noch dazu hätten sich die Zeugen in Widersprüche zu ihren eidesstättigen Erklärungen, die Kurz-Anwalt Otto Dietrich mitformuliert haben soll, verheddert.

6. Die ÖVP und Kurz verweisen auf den Rechtsweg, einzelne Vertraute auf Verschwörungen

Nach dem Urteil zeigte sich Kurz überrascht, er habe das nicht erwartet und empfinde den Schuldspruch als "sehr ungerecht". Allerdings sei er in zwei von drei Anklagepunkten freigesprochen worden und werde den Schuldspruch in nächster Instanz bekämpfen. So ähnlich tönte es auch von der ÖVP selbst. "Es ist somit eine noch nicht rechtskräftige Entscheidung, sodass der Ausgang des Rechtsmittelverfahrens abzuwarten bleibt", ließ ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker wissen. Er hätte Kurz und Bonelli eine andere Entscheidung gewünscht.

Deutlich aufgeregter zeigte sich der ÖVP-Abgeordnete Martin Engelberg. Noch während der Richter sprach, beklagte Engelberg, dass "Wortklauberei" und Fragen wie "Na oder Nein" für einen Schuldspruch reichten – was so nicht stimmt und der Richter sogar eingangs in seiner Urteilsbegründung betonte.

Der ÖVP-Berater Daniel Kapp deutete auf X (Twitter) sogar grüne Absprachen rund um das Urteil an. So hatte sich die einstige Grünen-Chefin Eva Glawischnig in einer Krone-TV-Diskussion mit Kapp am Mittwoch fälschlicherweise davon überzeugt gezeigt, dass Kurz bereits verurteilt worden sei. "Manche wussten den Ausgang des Verfahrens bereits am Mittwoch...", rumorte Kapp auf X. Für die Annahme, der unabhängige Richter habe sich mit Justizministerin Alma Zadic (Grüne) abgesprochen, die wiederum der 2017 als Parteichefin zurückgetretenen Glawschnig Interna verriet, gibt es keinerlei Anhaltspunkte.

7. Das Verfahren wird noch lange dauern – ebenso ein politisches Kurz-Comeback

In einem nächsten Schritt wird der Richter ein schriftliches Urteil ausfertigen, danach geht die Causa an das Oberlandesgericht (OLG) Wien. Womöglich kann auch der Oberste Gerichtshof (OGH) mit der Sache befasst werden, da einige Fragestellungen etwa rund um den Aussagenotstand juristisch umstritten sind.

Bis zu einer Rechtskraft eines etwaigen Schuld- oder Freispruchs dürfte es also noch lange dauern. Mit der nicht-rechtskräftigen bedingten Haftstrafe im Gepäck scheint ein politisches Comeback von Kurz aber vorerst ausgeschlossen. Der Exkanzler selbst hatte immer wieder betont, nicht in die Politik zurückkehren zu wollen; Gerüchte gab es dennoch regelmäßig.

Das Verfahren zog viel Aufmerksamkeit auf sich
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Mehr Ruhe könnte der Schuldspruch für die WKStA bedeuten: Die Antikorruptionsbehörde sieht sich seit Jahren regelmäßigen Angriffen durch die Politik ausgesetzt. Bei einem Freispruch hätte ihr die ÖVP vermutlich erneut schlechte Arbeit und eine ungerechte Verfolgung von türkisen Politikern attestiert. Nun hat ein unabhängiges Gericht in zumindest einem Anklagepunkt die Vorwürfe der WKStA gegen Kurz bestätigt. (Fabian Schmid, Renate Graber, 24.2.2024)