Österreichs Verteidigungsministerin Klaudia Tanner bei der internationalen Militärübung European Mountain Thunder auf dem Truppenübungsplatz Lizum/Tirol im Jahr 2022.Im Rahmen der European Union Pooling & Sharing Mountain Training Initiative (MTI) beteiligten sich neben Österreich Montenegro, Spanien und Tschechien an der Übung. Das Österreichische Bundesheer hat Know-how für die Einsatzführung im Hochgebirge.
Bundesheer/ Gunter Pusch

Der Erste Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Othmar Karas (ÖVP), vermisst in Österreich eine ernsthafte Debatte über die Zukunft der Verteidigungspolitik. Es sei längst klar, dass die Neutralität der Solidarität innerhalb der Sicherheitspolitik der Europäischen Union untergeordnet wird. Von der Regierung erwartet er entsprechende Pläne: Jede Investition ins Bundesheer müsse den gemeinsamen Zielen des beschlossenen Strategischen Kompasses der EU dienen, einen Mehrwert beim Aufbau einer EU-Militärunion bringen.

STANDARD: Wie kann sich die Wahl des US-Präsidenten auf die europäische und die österreichische Sicherheitspolitik auswirken?

Karas: Wenn Trump wiedergewählt wird und nur eine seiner Aussagen zur Nato und zu Russland wahrmacht, dann muss Europa erklären: "Wir sind bereit, die Fahne zu übernehmen und die freie Welt anzuführen." Wir werden sagen müssen, wir tun alles, um für unsere eigene Sicherheit allein zu sorgen. Wenn wir das nicht tun, zerfallen wir schnell in Nationalismus.

STANDARD: Es ist aber doch auch so, dass Trump auf derbe Weise nur das ausdrückt, was sein Vorgänger Barack Obama schon vor zehn Jahren sagte: Die Europäer sollen die Militärausgaben deutlich erhöhen. Aber es wurde wenig bis nichts dafür getan, in die eigene Sicherheit zu investieren. Die Europäer in der Nato und der EU haben seit 2014 zugeschaut, wie Russland die Ukraine in den Krieg zieht.

Karas: Da bin ich bei Ihnen. Aber wir müssen trotzdem auch differenzieren. Die Europäische Union neigt dazu, zwischen den Mitgliedsstaaten immer erst dann eine Einigung zu bekommen, wenn allen das Wasser schon bis zum Hals steht. Die Frage der Sicherheits- und Verteidigungsunion ist sicher eine, die unser Selbstverständnis berührt.

STANDARD: Auffällig ist, dass die Nordeuropäer und die Osteuropäer dabei anders ticken als die "alten" EU-Staaten im Westen. Schweden und Finnland traten der Nato bei, die baltischen Staaten sind sehr vital in Sachen Sicherheit. Die estnische Premierministerin Kaja Kallas drängt auf Aufrüstung, deshalb lässt Wladimir Putin sie jetzt verfolgen. Ist die Unentschlossenheit nicht selbstgemacht?

Karas: Auf den ersten Blick ist das so, wenn man es pauschal sieht. Andererseits muss man sehen: Die Milliardenhilfen der EU für die Ukraine hätte man sich vor dem Angriffskrieg Russlands gegen sein Nachbarland nicht vorstellen können. Der sogenannte Strategische Kompass der Europäischen Union ist de facto auch der Plan zur Bildung einer europäischen Verteidigungsunion.

STANDARD: Sie meinen, man ist ohnehin auf einem guten Weg?

Karas: Die EU muss eine Verteidigungsunion werden, mit allen Teilen, die dazugehören. Ich bin dafür, dass kein Euro mehr in nationale Armeen investiert wird, wenn das nicht mit dem Strategischen Kompass der EU kompatibel ist.

STANDARD: Beispiel Österreich. Es werden gerade für viele Milliarden Waffen, Panzer, Hubschrauber und Flugzeuge angeschafft, ohne dass klar ist, wohin die Reise des Landes sicherheitspolitisch geht. Ein Fehler?

Karas: Einen Mehrwert hat das alles eben nur dann wirklich, wenn es einzahlt in die Schaffung einer europäischen Verteidigungsunion. Dazu muss es einen Arbeitsplan geben, wer im Ernstfall was macht. Das muss und kann ja nur auf europäischer Ebene koordiniert werden. Ich plädiere auch dafür, dass man die Außen- und Sicherheitspolitik in die EU-Kommission integriert und die Zwitterstellung des EU-Außendienstes auflöst. Wir brauchen dringend eine andere Struktur.

STANDARD: Dazu müsste in Österreich eine ernsthafte, substanzielle Debatte zur Neutralität und deren Sinnhaftigkeit, bis hin zum Nato-Beitritt, beginnen. Dazu sind die Parteien aber nicht bereit.

Karas: Ich habe vor zwei Wochen im Nationalrat daran erinnert, dass wir 1998 unsere Verfassung geändert haben. Im Artikel 23j ist eindeutig festgehalten, dass die Neutralität nicht im Widerspruch steht zum Aufbau einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik innerhalb der EU. Wir neigen dazu, die Debatte auf die Frage der Neutralität zu reduzieren, und kommen daher nicht zu einer Debatte über die künftige Verteidigungspolitik in Europa.

STANDARD: Ist es nicht einfach so, dass österreichische Politiker zu feig sind, den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen, dass die Zeit der Neutralität vorbei ist? So wie Malta, Zypern und Irland spielt Österreich sicherheitspolitisch keine Rolle, maximal die zweite Geige, verlässt sich auf den Schutz durch Nato-Staaten.

Karas: Österreich ist in der EU nicht neutral, sondern solidarisch. Ich gehe daher davon aus, dass jeder Euro, der in die Landesverteidigung fließt, den Zielen des Strategischen Kompasses entspricht. Ich gebe aber zu, es wäre mir lieber, wenn es eine öffentliche Debatte dazu gäbe, warum wir was machen. Ich bedauere, dass die neue Sicherheitsstrategie in Österreich nicht kommt, es auch keinen Optionenbericht geben wird, was geschehen muss, um uns optimal zu schützen. Das hatten wir 1998 einmal. (Bereits Ende 2023 wollte die Bundesregierung dem Parlament den Entwurf für eine neue Sicherheitsstrategie vorlegen, Anm.)

STANDARD: Was wollen Sie persönlich, halten Sie die Neutralität für sinnvoll? Oder ist sie obsolet?

Karas: Die Neutralität ist im 21. Jahrhundert nicht mehr die Antwort auf alle Sicherheitsbedrohungen wie noch damals im Jahr 1955. Die Bedrohungsbilder haben sich verändert. Nur auf die Neutralität zu setzen ist nicht mehr ausreichend für die Sicherheit Österreichs.

STANDARD: 2024 gilt vielen als entscheidendes Jahr nicht nur im Ukrainekrieg, sondern auch für Europa. Kann es sein, dass die EU daran scheitert, dass sie in der Folge zerfällt, wenn die Ukraine verliert und als souveränes Land verschwindet?

Karas: Wir scheitern dann, wenn wir die europäische Idee, die Demokratie und den Parlamentarismus nicht in die Tat umsetzen. Dann würden wir in Nationalismen zerfallen. Die Bewahrung des Status quo reicht nicht. Wir stehen vor einer klassischen Richtungsentscheidung, nicht nur durch den Krieg, sondern auch durch Klimawandel, künstliche Intelligenz, wirtschaftlichen Wettbewerb, Geopolitik und vieles mehr. Als Politiker muss ich sehen, woran wir scheitern können, und ich muss Maßnahmen setzen, damit das nicht passiert. Wir müssen uns als Kontinent verstehen, auch wenn es scheinbar einfacher ist, auf den Nationalismus zurückzugehen. Daher ist die Europäische Union Teil der Antwort. (Thomas Mayer aus Brüssel, 28.2.2024)