Ein Graffiti von Nesh an der Brigittenauer Brücke, das wahrscheinlich 1995 gesprüht wurde.
Ein Graffiti von Nesh an der Brigittenauer Brücke, das wahrscheinlich 1995 gesprüht wurde.
Levin Statzer

Die bunten Farbschichten an den Seitenmauern des Donaukanals kann man zählen wie die Jahresringe eines Baumes. "Wenn man wissen will, wie alt ein Graffiti ist, orientiert man sich daran", erzählt Maike Hettinger. Gemeinsam mit Stefan Wogrin, der das umfangreiche Graffiti-Online-Archiv Spraycity betreibt, hat sie eben das Buch Graffiti Wien #1 1984–1999 veröffentlicht. Darin rekonstruieren die beiden den Weg einer illegalen urbanen Bewegung zur anerkannten Kunstform. Wenn man die umfangreiche Wiener Graffitigeschichte vollständig erzählen will, umfasst das auch illegale Werke. Eine Fläche ohne das Einverständnis des Eigentümers zu bemalen ist Sachbeschädigung, die in Österreich laut § 125 StGB geahndet wird.

Wir stehen am Donaukanal. Neben dem Club Flex befindet sich die erste legale Graffitiwand der Stadt, gekennzeichnet durch das Logo einer Taube, die man aber unter den dicken Farbschichten fast gar nicht mehr erkennen kann. Im Rahmen des Jugendkulturprojekts Wienerwand der Stadt Wien wollte man einen nichtkriminalisierten Raum für öffentliche Kunst schaffen. 1994 wurde diese heute noch bestehende Wand an der Roßauer Lände freigegeben. "Das war eine der letzten Amtshandlungen des Bürgermeisters Helmut Zilk", erzählt Wogrin. Er selbst hat seine Leidenschaft für Graffiti während einer Paris-Reise im Jahr 2001 entdeckt. Der gebürtige Kärntner begann die Graffitis in seiner Heimatstadt Klagenfurt zu dokumentieren, aber dort gab es gar nicht so viele. "Alle, die sich in Österreich mit Graffiti beschäftigen, landen irgendwann in Wien", lacht er. Hettinger stammt ursprünglich aus Stuttgart. "Dort gab es Anfang der 2000er viele spannende Bilder, aber mittlerweile bin ich auch seit zehn Jahren in Wien", erzählt sie.

Maike Hettinger und Stefan Wogrin haben mehr als 30.000 Bilder von Graffitis gesammelt.
Spraycity

Wo beginnt man, wenn man eine Geschichte der Wiener Graffitikultur erzählen will? Seinen Namen – sein Tag – zu hinterlassen ist ein menschliches Grundbedürfnis, das war auch schon in den Höhlenmalereien der Altsteinzeit so. "Das älteste uns bekannte Namensgraffiti aus dem Großraum Wien ist aus der römischen Antike, aus dem vierten Jahrhundert nach Christus", erklärt Stefan Wogrin. Heute befindet sich das Ziegelsteinfragment im Landesmuseum Burgenland in Eisenstadt. Einige Jahrhunderte später, im Jahr 1973, greift die Künstlerin Valie Export den Grundgedanken des Graffiti auf. In ihrem Werk Schriftzug schreibt sie das Wort "Schriftzug" auf einen Waggon der Zugverbindung zwischen Venedig und Wien. "Es geht darum, dass er herumfährt und überall gesehen wird", sagt Maike Hettinger.

Hausbesetzer und Schmetterlinge

Züge waren das Hauptträgermedium der illegalen Graffitibewegung in New York, die sich in den 1970er-Jahren entwickelte. Die Wiener Writer – so nennt man die Graffitimaler in der Szene – hat das inspiriert. Ein Schlüsselereignis damals war die Besetzung der Arena 1976, bei der es zahlreiche Graffitis mit gemalten Peace-Zeichen oder Love-Schriftzügen gab. Besonders hervorzuheben ist auch ein "Schmetterlinge"-Schriftzug, der bereits mit dreidimensionalem Schlagschatten gesprüht wurde und sich vermutlich auf die gleichnamige Band rund um Willi Resitarits bezog, die an der Besetzung involviert war.

Auch der Waggon eines Güterzugs wurde damals bemalt – nach New Yorker Vorbild. Die New Yorker sind es auch, die in den 1980ern noch auf andere Weise die Initialzündung für die Wiener Writing-Geschichte wurden. Der Galeristin Grita Insam waren in New York nämlich die bunt bemalten Waggons aufgefallen – sie war begeistert und holte 1984 die New Yorker Writer Delta 2, Ero, Phase 2 und Rammellzee als Artists in Residence in ihre Galerie im ersten Wiener Bezirk. "Erst später haben sich eigene europäische Stilrichtungen in Amsterdam und Paris entwickelt", erzählt Wogrin.

Ein neuer Anfang

Graffiti kam in Wien an – und regte auf. In der Öffentlichkeit wurde nicht zwischen Vandalismus und Graffiti unterschieden, und die Räumung des Kulturzentrums Gassergasse führte zu einer Debatte. Als ein Denkmal im Schönbornpark mit dem Schriftzug "Da Zilk wors" besprüht wurde, kündigte der Bürgermeister Gegenmaßnahmen an. Gerade unter Jugendlichen war zu dieser Zeit das Thema Wohnungsnot groß, und Graffitis dienen nach wie vor oft dem politischen Ausdruck. Der Sozialdemokrat Zilk änderte seine Meinung. "Er hat sich bemüht, Orte zu finden, an denen sich Jugendliche mit Sprühdosen ausdrücken können", sagt Wogrin. Die Zahl der Graffitis nahm in den 1990ern zu – sowohl legal als auch illegal. "Die Polizei richtete damals eine Sonderkommission ein", erklären Hettinger und Wogrin. Die Verhafteten werden mit hohen Schadenssummen konfrontiert. "Das größte Rätsel war, mit welchen Rechenkünsten diese hohen Beträge zustande kamen."

Maike Hettinger und Stefan Wogrin (Hrsg.),
Maike Hettinger und Stefan Wogrin (Hrsg.), "Graffiti Wien #1, 1984–1999". € 55,– / 272 S. Spraycity, Wien 2024
Spraycity

Am 3. Dezember 1994 verkündete der Polizeipräsident Günther Bögl schließlich die Zerschlagung der Graffitiszene: Man hätte 40 Verdächtige ausgeforscht und 80 Prozent der Sachbeschädigungen aufgeklärt. Es war ein Rückschlag für die Szene, die sich danach erst einmal neu entwickeln musste. Mit der Jahrtausendwende endet auch das Buch von Maike Hettinger und Stefan Wogrin, ein zweiter Teil ist in Planung.

"Pro Jahrzehnt gab es oft einen Namen, der polarisiert hat", sagt Maike Hettinger. In den 1990ern war das Style, in den 2000ern Luxus und ab 2010 der umstrittene Puber. Was er heute macht? Was auch immer es ist, mit dem STANDARD reden ist es nicht. Seine Antwort auf eine diesbezügliche Anfrage: "Unter 1000e geb ich ke8ne interviews oder statemwnts." Er lebt mittlerweile wieder in der Schweiz. (Jakob Thaller, 26.2.2024)