Die beiden Angeklagten werden von Justizwachebeamten in den Schwurgerichtssaal im Landesgericht Krems geführt.
Die beiden Angeklagten und ihre Verteidiger Sascha Flatz und Astrid Wagner (v. li.) am Beginn des zweiten Verhandlungstages in Krems.
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Wien – Das Grauen kommt auf unterschiedlichen Wegen über die Anwesenden im Schwurgerichtssaal des Landesgerichts Krems. In Form der sonoren Stimme des gerichtsmedizinischen Gutachters, der nüchtern Details zum lebensbedrohlichen Zustand auflistet, in dem er am 23. November 2022 einen Zwölfjährigen auf der Intensivstation der Klinik Donaustadt vorfand. In Form von vorgeführten Videos, die die Mutter des Kindes Stunden bis Tage davor aufgenommen hatte, auf denen zu sehen ist, dass der Bub sich nicht mehr bewegen und nur noch inkohärent murmeln kann. In Form von Zeuginnenaussagen, die beschreiben, was im Vorfeld passiert ist. Und in Form der völligen Emotionslosigkeit, mit der die 33-jährige Mutter des Buben und eine 40 Jahre alte Freundin von ihr auf der Anklagebank das alles aufnehmen.

Frau W., der erstangeklagten Mutter, werden von Staatsanwältin Anna Weißenböck versuchter Mord, fortgesetzte Gewaltausübung, Quälen und Vernachlässigung eines Unmündigen sowie Freiheitsberaubung vorgeworfen. Die Zweitangeklagte soll sie zur Folter des Zwölfjährigen angestiftet haben – am zweiten Verhandlungstag modifiziert Weißenböck die Anklage gegen diese Frau allerdings. Da schwere Dauerfolgen eingetreten sind, drohen ihr nun fünf bis 15 Jahre Haft. Beantragt hat die Anklägerin auch, dass bei einem Schuldspruch die beiden unbescholtenen Frauen strafrechtlich in einem forensisch-therapeutischen Zentrum untergebracht und behandelt werden sollen, da sie zwar zurechnungsfähig, aber gefährlich seien.

Während sich die von Astrid Wagner verteidigte Mutter zu allen Punkten abseits des Mordversuchs schuldig bekennt, versuchte Frau B., die von Sascha Flatz vertretene Zweitangeklagte, am Nachmittag des ersten Tages ihre Rolle herunterzuspielen. Sie bekannte sich teilschuldig, wich aber Fragen von Monika Fasching-Lattus, der Vorsitzenden des Geschworenengerichts, aus. Ebenso am Beginn des zweiten Prozesstages: In fast mädchenhafter, demütiger Stimme beantwortet sie Fragen – allerdings nur jene von ihrem Verteidiger, sonst möchte sie nichts mehr zur Sache sagen.

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Seltsame finanzielle Transaktionen

B. stellt sich als helfende Hand dar, die der alleinerziehenden, arbeitslosen W. immer wieder Essen und Lebensmittel vorbeigebracht und ihr auch geraten habe, psychologische Hilfe für sich und den Sohn in Anspruch zu nehmen, was verweigert worden sei. Außerdem habe sie Angst vor der Erstangeklagten gehabt, behauptet sie. Gar so groß kann die Angst der Österreicherin, die selbst vier Kinder hat, nicht gewesen sein. Schließlich ließ sie sich von der Erstangeklagten die Handyrechnungen für sich und eine Tochter begleichen und ließ sich angeblich 20.000 Euro für ein neues Auto schenken. Stimmt nicht, sagt die Erstangeklagte: B. habe sie überredet, dass von einem Hausverkauf übriggebliebene Geld auf B.s Konto zu überweisen, da angeblich W.s Vater Hacker kenne, die das Bankguthaben der Erstangeklagten spurlos abbuchen könnten.

Die Zweitangeklagte sieht sich in dieser Frage schuldlos. Die Frage der Staatsanwältin, warum in der Wohnung der karenzierten Verkäuferin zwar vier teure Fernseher und Spielkonsolen gefunden wurden, jedes Kind ein iPhone hatte und eines zahlreiche Sammelfiguren im Wert von 150 bis 400 Euro pro Stück, beantwortet sie nicht direkt. Erst als ihr Verteidiger sie bittet, sagt sie, dass vieles davon Geschenke von Verwandten gewesen seien und die Familie außerdem dank Sozialleistungen und dem Einkommen ihres Lebensgefährten 4.000 Euro netto monatlich zur Verfügung gehabt habe. Das von der Erstangeklagten überwiesene Geld ist jedenfalls nicht mehr auf dem Konto, ein eigenes Ermittlungsverfahren in dieser Causa ist anhängig.

Hans Salzer, Kinderarzt und Gerichtssachverständiger, berichtet in seiner Expertise dann, dass der auf 40 Kilogramm abgemagerte und völlig unterkühlte Zwölfjährige in akuter Lebensgefahr ins Spital gebracht worden und es dabei "um Stunden gegangen" sei. Die Unterkühlung – die Mutter hatte das Kind, das wegen verminderter Intelligenz und Verhaltensauffälligkeiten in eine Sonderschule ging, eingestandenermaßen immer wieder mit Wasser übergossen und stundenlang bei Minusgraden vor einem offenen Fenster stehen lassen – habe sich nur noch durch Medikamentengabe in den Griff bekommen lassen, dennoch seien die Chancen schlecht gestanden. Auch das Körpergewicht sei angesichts der Größe des Buben bereits so niedrig gewesen, dass man auf künstliche Ernährung setzen musste.

Die beiden Frauen auf der Anklagebank nehmen die Ausführungen ohne erkennbare Gefühlsregung zur Kenntnis. Die Zweitangeklagte hat zwar eine Seelsorgerin mitgebracht, mit der sie aber nicht offensichtlich interagiert. Die erstangeklagte Mutter sieht meistens teilnahmslos auf den Boden.

In Telefonaten Gesundheitszustand kaum erwähnt

Es gibt auch keine Reaktionen, als eine Sozialarbeiterin als Zeugin auftritt, die mit der Mutter und dem Buben von 2017 bis Anfang 2019 zu tun hatte. Sie blieb mit der Erstangeklagten in losem Kontakt, da diese sich ihrer Einschätzung nach schwertat, externe Hilfe anzunehmen. Außerdem: "Es gab nicht wirklich eine Versorgung im Waldviertel", kritisiert sie. Im Herbst 2022 habe sich W. dann telefonisch gemeldet und ihr darüber berichtet, dass sie an einen Schulwechsel für den Sohn denke. Danach gab es ein Gespräch, in dem die Mutter sich über einen Besuch des Jugendamtes echauffierte. Und am 21. November, einen Tag bevor das Kind ins Koma fiel, kam es zu "einem völlig wirren Telefonat". Um die Gesundheit des Kindes sei es aber immer nur am Rande gegangen, nur von eitrigen Zehennägeln und einem Sturz sei gesprochen worden.

Am Abend des 22. Novembers habe sich dann die ihr bis dahin persönlich unbekannte Zweitangeklagte gemeldet. Auch das sei ein seltsames Telefonat gewesen – B. habe zwar gesagt, ihre Freundin habe ihr Videos des Kindes geschickt, die den Buben "in bedenklichem Zustand" zeigen würden. Gleichzeitig erzählte sie, was für eine perfekte Mutter sie selbst sei. Die Zeugin beschloss dann doch, vor Ort nach dem Rechten zu sehen und fuhr mit der Zweitangeklagten zur Wohnung der Erstangeklagten. "Im Stiegenhaus hat sie dann plötzlich gesagt, sie möchte den Besuch doch abbrechen und nannte zwei Gründe: W. habe zwei scharfe Hunde, und außerdem sei diese selbst psychisch krank und könnte aggressiv werden."

Man ging dann doch gemeinsam zur Wohnungstür, im Wohnzimmer lag das völlig apathische und bewusstlose Kind neben einer Matratze auf dem Boden. Sie sei selbst völlig geschockt gewesen, verteidigt sie sich, aus ihrer Fassungslosigkeit habe sie erst wieder ein Dialog der beiden Frauen gerissen. "Na dann fahr ich halt morgen mit ihm ins Krankenhaus", habe die Mutter zur Zweitangeklagten gesagt, die mit "Nein, es ist besser, du rufst jetzt die Rettung" geantwortet habe. Folge hatte das zunächst keine. "Ich habe denen dreimal immer lauter gesagt, dass sie die Rettung holen sollen", schildert die Zeugin. Als die Erstangeklagte den Notruf schließlich absetzte, habe sie "emotionslos, wie wenn man eine Pizza bestellt", gewirkt.

Mutter wollte nicht mit Kind ins Spital

Sie habe auch kein Interesse daran gezeigt, mit dem Kind ins Spital zu fahren, erzählte der Notärztin aber, der Zwölfjährige sei ein paar Stunden davor noch völlig normal gewesen. Videos, die sie aufgenommen und der Zweitangeklagten übermittelt hatte, bewiesen das Gegenteil. Beim Abtransport hätten die Mutter nur zwei Fragen gequält: ob sie den geschiedenen Vater des Kindes gleich oder am nächsten Tag informieren solle und ob der Zustand ihres Sohnes auf sie zurückfallen könnte. "Ich dachte, ich bin im falschen Film und dass das alles surreal ist!", erinnert sich die Zeugin.

Mit der Zweitangeklagten habe sie in den Tagen danach noch telefonisch Kontakt gehabt – "sie war mir ein wenig unheimlich". 95 Prozent der Gesprächszeit hätte die Zweitangeklagte von sich erzählt, fünf Prozent vom Zustand des Kindes. Stückchenweise habe sie zugegeben, doch Einzelheiten zu kennen. Als die Zweitangeklagte von der Hundebox, in die der Bub gesperrt wurde, berichtete, brach die Zeugin den Kontakt ab. "Wenn ich aus einer Person überhaupt nicht schlau werde, ist das die Frau B.", lautet ihr Fazit.

Ein Urteil wird am Donnerstag erwartet. (Michael Möseneder, 27.2.2024)