Protest gegen Gewalt an Frauen in Istanbul am 25. November 2023, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen.
Protest gegen Gewalt an Frauen in Istanbul am 25. November 2023, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen.
IMAGO/ABACAPRESS

Istanbul – Es ist ein trauriger Rekord in der Türkei. Innerhalb von 24 Stunden, von Dienstag auf Mittwoch dieser Woche, wurde sieben Frauen von ihren Ehemännern oder früheren Ehemännern ermordet und eine Frau so schwer verletzt, dass sie am frühen Mittwochmorgen im Krankenhaus starb. Die Frauen waren zwischen 32 und 49 Jahre alt. Die Femizide fanden quer durch das ganze Land statt, vom westlichen Izmir an der Ägäisküste über Istanbul bis nach Erzurum ganz im Osten. Zwischen den Morden gibt es keinen weiteren Zusammenhang, außer dass sie alle an einem Tag passierten.

Wie verschiedene türkische Medien, darunter die Tageszeitung "BirGün" und der TV-Sender Habertürk berichteten, sind die mutmaßlichen Täter entweder ihre Ehemänner, Ehemänner während einer laufenden Scheidung oder bereits geschiedene Ehemänner. In einem Fall war der Vater der Frau der mutmaßliche Täter.

Drei der mutmaßlichen Täter töteten sich anschließend selbst, drei wurden festgenommen, die anderen beiden sind flüchtig. Einer starb an Verletzungen, die ihm bei der Festnahme zugefügt wurden.

Die "heilige Familie"

So weit die Fakten. Die Zivilorganisation "Wir stoppen Femizide", die seit 2010 die Morde an Frauen dokumentiert und die überlebenden Opfer von Gewalt unterstützt, sagte zu dem traurigen Rekord von Frauenmorden an nur einem Tag, es sei kein Zufall, dass so viele Frauen in so kurzer Zeit ermordet wurden, sondern das Ergebnis der Politik der Regierung. "Die Frauen werden innerhalb der Familie getötet, angeblich, weil sie die von der Regierung propagierte 'heilige Familie' verletzt hätten. In einer Zeit, in der die Regierung unsere individuellen, zivilen Rechte infrage stellt, kann jeden Moment eine Frau getötet werden."

Im Jahr 2021 kündigte Präsident Recep Tayyip Erdoğan die türkische Mitgliedschaft in der Istanbul-Konvention auf, eine völkerrechtlich verbindliche Konvention zum Schutz von Frauen. Er und seine Partei AKP argumentierten, durch die Konvention würde der Zusammenhalt der Familie geschwächt und Homosexualität unterstützt. Von sämtlichen Frauenorganisationen in der Türkei wurde die Regierung deshalb stark kritisiert. Insbesondere das Bündnis "Wir stoppen Femizide" geriet wegen seiner Kritik sogar in den Fokus der Justiz und sollte verboten werden, weil die akribische Dokumentation von Frauenmorden der Regierungspropaganda zuwiderlief. Ein Gericht lehnte allerdings den Verbotsantrag der Staatsanwaltschaft ab.

Erdoğan und seine Minister argumentieren immer wieder, dass die Türkei keine internationale Konvention brauche, sondern durch ihre eigenen Gesetze Frauen genügend schütze.

Fehlender Schutz

Tatsächlich gibt es das Gesetz 6284 des Strafgesetzbuchs, mit dem Frauen vor Gewalt, auch häuslicher Gewalt, geschützt werden sollen. Frauenorganisationen beklagen allerdings immer wieder, dass vielen Frauen, die sich gegenüber der Polizei darauf berufen, ein Schutz dennoch versagt wird. Die Polizei, so "Wir stoppen Femizide", nimmt Anzeigen wegen häuslicher Gewalt nicht ernst und schickt die Frauen stattdessen oft wieder nach Hause.

Selbst Frauen, die bereits misshandelt wurden, bekommen oft nicht den nötigen Schutz. Das schlägt sich in den Zahlen nieder, die die "Wir stoppen Femizide" jedes Jahr sammelt. Für 2023 hat die Organisation 315 Femizide gezählt, 2022 waren es 334, 2021 280, 2020 300 Femizide und 2019 sogar 474 getötete Frauen. Dazu kommt jedes Jahr eine Dunkelziffer zwischen 200 und 250 getöteten Frauen, bei denen ein Femizid nicht zweifelsfrei nachzuweisen ist, obwohl der Zusammenhang einen Femizid nahelegt. (Jürgen Gottschlich, 28.2.2024)