Die Europäische Union hat sich digitale Souveränität auf ihre Fahne geschrieben. Neben traditionellen "europäischen Werten" wie Datenschutz und Privatsphäre haben kürzlich Begriffe wie Transparenz, Fairness und Unabhängigkeit Einzug in europäische Politik- und Gesetztestexte gefunden. Auch im Rahmen von EU-Flagship-Initiativen wie zum Beispiel Gaia-X, einem Projekt zum Aufbau eines europäischen Cloud-Ökosystems, wird vor allem die Eigenständigkeit Europas betont. Ähnlich formuliert das EU-Projekt Open Web Search seine Absicht ganz deutlich: "14 renommierte europäische Forschungs- und Rechenzentren haben sich zusammengeschlossen, um eine offene, europäische Infrastruktur für Websuche zu entwickeln. Diese Initiative wird Europas digitale Souveränität stärken sowie einen offenen menschenzentrierten Suchmaschinenmarkt fördern."

Kabel von Computer
Der Aufbau alternativer Suchmaschinen und Infrastrukturen wird in Europa diskutiert.
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Web-Index

Das Herzstück jeder Suchinfrastruktur ist der Web-Index. Er stellt eine Art Datenbank aller indexierten Webseiten dar, in denen Suchmaschinen ihre Ergebnisse finden. Die Größe und Aktualität des Web-Indexes ist daher zentral. Derzeit gibt es nur vier große, umfassende Web-Indexe, die alle in kommerziellen Händen sind; nämlich im Eigentum von Alphabet (Google), Microsoft (Bing), der chinesischen Internet Firma Baidu und der russischen Firma Yandex.

Alle diese Indexe sind aufgrund von Geschäftsgeheimnissen geschlossen und daher für niemanden außerhalb der Firmen zugänglich. Suchmaschinen, die keinen eigenen (großen) Index haben, gehen häufig Geschäftsbeziehungen mit diesen Firmen ein, um gegen Gebühr und Werbeabgaben auf deren Ergebnisse zugreifen zu können. Kleine Suchmaschinen sind damit oft von großen Playern abhängig. Der Aufbau eines offenen, umfassenden Web-Indexes könnte eine Alternative dazu anbieten. Er könnte eine Grundlage für ganz unterschiedliche Suchmaschinen sein, die darauf aufsetzen und sich damit von Big-Tech-Konzernen unabhängig machen könnten.

Algorithmische Imaginationen

Doch wie gestaltet sich der Aufbau einer so umfassenden Daten-Infrastruktur? Welche Visionen und Werte treiben so ein Projekt an? Welche Herausforderungen müssen gemeistert werden? Und welche Interventionen könnten helfen? Diesen Fragen hat sich das Forschungsprojekt "Algorithmische Imaginationen" umfassend gewidmet. Konkret hat es drei europäische Suchmaschinen-Projekte analysiert, darunter den Aufbau eines offenen, EU-finanzierten Web-Indexes, aus dem später das oben erwähnte EU-Projekt Open Web Search entstanden ist.

Die zweite Fallstudie hat sich der Privatsphäre-freundlichen Suchmaschine Startpage gewidmet, die mit Google kooperiert und damit Nutzer:innen eine anonyme Google-Suche ermöglicht. Das letzte Projekt ist eine Peer-to-Peer-Suchmaschine namens YaCy, die versucht einen dezentralen Index aufzubauen, der verteilt auf den Rechnern der Nutzer:innen liegt. Die Analyse hat einen speziellen Fokus auf "europäische Werte" gelegt, die von allen Projekten in der ein oder anderen Form mobilisiert werden.

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass alle drei Suchmaschinen-Projekte Werte wie Privatsphäre, Offenheit, Dezentralität oder Unabhängigkeit ins Zentrum der Gestaltung ihrer Technologien stellen. Diese Werte sind jedoch nicht starr, sondern kontextgebunden und veränderbar, eng verschränkt mit der laufenden Entwicklung der Technologien selbst. Diese Flexibilität erlaubt den Projekten eine gewisse "Wertepragmatik" und damit Kompromissfähigkeit, welche ihnen ermöglicht zu wachsen und nachhaltig(er) zu werden. Ein Balanceakt ist zum Beispiel das Abwägen des eigenen, strengen Privatsphäre-Anspruchs mit Werbung auf kommerziellen Plattformen, um Menschen auf alternative Suchmaschinen aufmerksam zu machen. Werte wie Privatsphäre oder digitale Souveränität werden dabei in größeren, europäischen Narrativen verankert; nicht zuletzt, um die eigenen Projekte zu promoten.

Interventionen

Europäische Technikgestaltung hat aber auch weniger prominente Seiten, die auf eine Reihe von Herausforderungen verweisen. Das Bild des "bürokratischen Europa" sei hier insbesondere erwähnt. Suchmaschinenentwickler:innen sehen sich häufig mit schwerfälligen Förderstrukturen und zurückhaltender Start-Up-Mentalität konfrontiert. Darüber hinaus werden alternative Zukünfte eines pluralistischen Europas entworfen, welche mit technologischer Diversität und Dezentralität verbunden sind. Ein offener Web-Index könnte etwa eine Fülle ganz unterschiedlicher Suchmaschinen, Ranking-Algorithmen und Applikationen ermöglichen. Dezentralisierung würde einem multikulturellen und vielfältigen Europa besser gerecht werden als global agierende Technologie-Konzerne wie Google, die primär auf Monopolisierung und Kommerzialisierung abstellen, wie meine Interviewpartner:innen betonen.

Drei konkrete Interventionen könnten dabei helfen:

Suchmaschinen – wie jede andere Technologie – sind also nicht unabhängig von ihren gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Umgebungen zu begreifen. So wie große US-amerikanische (und zunehmend chinesische) Technologien Sprösslinge ihres marktliberalen und datenkapitalistischen Nährbodens sind, sind auch europäische Technologien eng mit ihren gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen verwachsen. Alternative Technik-Zukünfte sind aber denkbar – und machbar. Ein erster Schritt wäre, die mächtige Rhetorik von Silicon-Valley-CEOs zu hinterfragen und mit alternativen Visionen und Werten zu konfrontieren. Wenn Europa dazu einen Beitrag leisten kann, ist noch ein Funke Hoffnung am Horizont der digitalen Souveränität. (Astrid Mager, 6.3.2024)