Ihren richtigen Namen Elise Hirschmann hatte sie schon hinter sich gelassen, lange bevor sie Deutschland den Rücken kehrte. 1894 in eine jüdische Berliner Familie geboren, legte sie sich noch in ihrer Studienzeit das Pseudonym Gabriele Tergit zu (ein Anagramm aus dem Wort "Gitter"). Mit diesem Namen zeichnete sie ihre Artikel und später ihre Romane. Mit der Machtübernahme der Nazis endete ihre Karriere frühzeitig, da war sie 39; nach dem Krieg konnte sie an den Erfolg nicht mehr anschließen und wurde eine der vielen zu Unrecht Vergessenen.

Gabriele Tergit
Gabriele Tergit hat am 4. März den 130. Geburtstag.
Foto: Jens Brüning

Seit einigen Jahren kann man Gabriele Tergit im Schöffling-Verlag wieder lesen, wo sich Nicole Henneberg um eine sorgfältige Neuedition nicht nur der Romane angenommen hat. Nun legt Henneberg auch die erste umfassende Biografie vor, und die ist vor allem ein eindrückliches Zeugnis weiblicher Selbstbehauptung. Tergit war eine der ersten Studentinnen an der Berliner Universität, wo sie Geschichte, Soziologie und Philosophie studierte. Seit 1915 schrieb sie Feuilletons, Reiseberichte, Glossen, den Stoff dazu fand sie nicht zuletzt in den Straßen Berlins. 1925 wurde sie, als erste Frau, beim Berliner Tageblatt fix angestellt und im liberalen Milieu der damals "zeitungshungrigsten aller Städte" bald eine berühmte Reporterin.

Hennebergs Biografie zeichnet ein atmosphärisches Bild mit all den Örtlichkeiten, wie sie auch in Tergits Großstadtromanen mit Zug ins Panoramahafte begegnen. Darin wird vor allem der gesellschaftliche Aufbruch nach dem Ersten Weltkrieg beleuchtet, als Frauen in Berufe drängten und in ihrer Selbstständigkeit wahrgenommen werden wollten. Im Zentrum steht jeweils Berlin, wo damals alles nach Erneuerung und Öffnung schrie. Für Tergit, die so nah am Zeitgeschehen schrieb, war die Weimarer Republik auch ein Staat der "modernen Frauen". Ihr konnte gar nichts Besseres passieren, als zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Typus der "Neuen Frau"

Im fortschrittlichen Berlin schuf der Typus der "Neuen Frau" gleichsam über Nacht eine neue Wirklichkeit. Oder erzeugte doch nur ein Zerrbild: Denn abseits der vermögenden Schicht bedeutete das Streben nach Erfolg, nach schicker Mode und freizügigem Leben eine nur schwer überbrückbare Kluft zwischen mühsamer Erwerbsarbeit am Tag und dem Vergnügen der Nacht. Im Gerichtssaal erlebte Tergit immer wieder diese Diskrepanz. Ihr Ideal der selbstständigen Frau war aber ohnehin ein anderes. Nicht Sendungs-, sondern Selbstbewusstsein war für sie der Maßstab, Bestätigung im Berufsleben statt Glamour.

Dass sie selbst, nicht nur wegen ihrer großbürgerlichen Herkunft, zu den Privilegierten zählte, wurde ihr gerade im Gerichtssaal bewusst, wo sie oft genug mit der sozialen Notlage von Frauen konfrontiert wurde: Als Reporterin für die beste Tageszeitung Berlins bekam siepro Artikel 75 Mark – gerade einmal ein Drittel davon betrug der Wochenlohn einer Näherin in Heimarbeit. Genau dieses Widersprüchliche, die Brüchigkeit der Gesellschaft, kommt auch 1931 in ihrem ersten Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm zum Ausdruck. Darin entlarvt sie die Welt der Reklame, schonungslos und subtil zeichnet sie das Raubtierhafte der Großstadt, in der man schnell unter die Räder kommt, während Emporkömmlinge die Gunst der Stunde nützen. Zugleich ist es ein Milieu, in dem nicht zuletzt die Nazis gedeihen. Die konnte Tergit im Jänner 1932 bei einem Presseprozess gegen Hitler aus nächster Nähe studieren, und sie hielt mit ihrer Meinung über die Inszenierung der Primitivität auch nicht zurück. Das machte die, laut Goebbels, "miese Jüdin" zur erklärten Feindin und zwang sie 1933 ins Exil.

Wiederentdeckung

Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte sie sich noch einmal in ihrer alten Profession und begann wieder für deutsche Zeitungen zu schreiben. 1949, zum Veit-Harlan-Prozess, kehrte sie sogar in den Gerichtssaal zurück, schrieb jedoch nach dem unerwarteten Freispruch keine einzige Reportage mehr und blieb bis zu ihrem Tod 1982 im Londoner Exil. Ihr zweites großes Erzählwerk, der Generationenroman Effingers, den sie noch in Deutschland begonnen hatte, wurde 1951 trotz guter Kritiken kein Publikumserfolg. Den dritten Roman lehnte der Rowohlt-Verlag 1965 ab. Immerhin durfte sie noch ihre Wiederentdeckung erleben, als 1977 der Käsebier neu aufgelegt wurde. Der Literaturbetrieb begann sich noch einmal für sie zu interessieren, aber alles noch Unveröffentlichte und alles, was sie noch schrieb, ihre Lebenserinnerungen, erschien erst nach ihrem Tod.

Heute mag man in Gabriele Tergit eine vor allem soziologisch spannende Autorin sehen, die dem Lebensgefühl ihrer Zeit eine moderne, sachliche Sprache gegeben hat. Ihre großangelegten Romane erschließen dieses Lebensgefühl ebenso wie das journalistische Werk. Dass Nicole Henneberg gerade dieser Zeitquelle viel Raum widmet, macht ihre Biografie so lebendig wie gewichtig. (Gerhard Zeillinger, 2.3.2024)

Nicole Henneberg,
Nicole Henneberg, "Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt". € 29,50 / 400 Seiten. Schöffling, Frankfurt am Main 2024
Cover: Schöffling